Hubert hatte damals tatsächlich angesäuert reagiert, als Sissi auf Gütertrennung beharrt hatte und außerdem der frevelhaften Ansicht war, ihr eigenes Vermögen könne sie selbst recht gut verwalten. Sie war aus dem Nemax-Boom rechtzeitig ausgestiegen und hatte in Renten- und Geldmarktfonds umgeschichtet, so dass sie heute noch über alles verfügte, was ihr der Boom eingebracht hatte. Das war gar nicht so wenig, für die angestrebte Dachwohnung mit Terrasse (zweieinhalb oder drei Zimmer) reichte es allemal, außerdem für ein kleines Zubrot zum Gehalt, ein bis zwei schicke Reisen pro Jahr (vielleicht mal eine Kreuzfahrt? Karibik oder Baltikum?) und bei Bedarf ein anständiges neues Auto.
Wenn man sich hier so umsah, sollte man zwar nicht glauben, dass sie sich auch etwas Anständiges leisten konnte, aber schließlich war die Jagdhütte nur eine Übergangslösung, und sie hatte nicht vor, hierher großartig Leute einzuladen. Wen denn auch?
Bevor sie jetzt wieder in Selbstmitleid versank, weil Hubert alle ihre Freunde auf seine Seite gezogen hatte, sollte sie lieber noch mal einen Blick in die Nachrichten werfen. Alleine schon wegen des Wetters, damit sie notfalls morgen genug Zeit zum Scheibenkratzen einkalkulierte.
Das übliche mäßig interessante Weltgeschehen. Die USA zeterten wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak herum, die Gewerkschaften ließen die Muskeln spielen, die drei Teenies, die nach einem Discobesuch gegen einen Alleebaum bei Kirchfelden gerast waren, waren alle auf dem Wege der Besserung (kurzer Kameraschwenk über die Krankenbetten, aus denen hauptsächlich eingegipste Arme und Beine herausragten), die letzten von der Ulmenkrankheit befallenen Ulmen im Prinzenpark waren gefällt worden und sollten im Frühjahr durch etwas Robusteres ersetzt werden.
Kurz vor dem Wetterbericht legte die Ansagerin ihr Gesicht in betroffene Falten, raschelte bedeutungsvoll mit ihren Blättern – als läse sie nicht ohnehin alles vom Teleprompter hinter der Kamera ab! – und verkündete, Franz Katzeder, der allseits beliebte Erste Bürgermeister, sei bei einer Veranstaltung in den Räumen des Städtischen Museums in den frühen Abendstunden zusammengebrochen und ins Städtische Krankenhaus eingeliefert worden – sobald man Genaueres wisse, werde des Publikum umgehend informiert, notfalls sei mit Programmänderungen zu rechnen.
„Höchstens beim Lokalsender“, kommentierte Sissi halblaut, „der hat sicher bloß wieder zu viel gegessen.“
Das Wetter folgte – Nachtfrost, vereinzelte Niederschläge, Schneefälle in Schleswig-Holstein. Wenig beeindruckende Bilder – nach Naturkatastrophe sah das noch lange nicht aus. Sissi rappelte sich auf, schaltete den Fernseher aus, kontrollierte, ob die Hautür und die hintere Küchentür verschlossen und verriegelt waren, und probierte eine Zeitlang an der etwas vorsintflutlichen Alarmanlage herum, deren Anleitung sie in der Flurkommode entdeckt hatte, Schließlich leuchtete es grün auf. „Scheint ja wohl richtig zu sein“, murmelte Sissi, warf noch einen Kontrollblick in die Runde und verzog sich ins Bett.
„Hat man jetzt schon Informationen aus dem Krankenhaus?“ Das klang etwas ungeduldig, und die Sekretärin zuckte auch sehr deutlich zusammen.
„Nein, Herr Bürgermeister. Bis jetzt heißt es immer noch, entweder ein Schwächeanfall oder was mit dem Herzen. Möchten Sie noch einen Kaffee?“
„Natürlich! Und hängen Sie sich noch mal ans Telefon. Vielleicht weiß Katzeders Assistent was.“
„Bestimmt. Aber Sie wissen doch selbst, wie zugeknöpft der ist. Der würde uns nicht mal verraten, wie Herr Katzeder mit Vornamen heißt.“
„Stellen Sie sich nicht so an, machen Sie schon!“
Gereizt lief Leonhard Schmieder in seinem Büro auf und ab. Als sich die Tür hinter der beleidigten Frau Schmalfuß geschlossen hatte, hielt er inne und starrte die nachgedunkelten Porträts oberhalb der Holztäfelung an. Lauter Zweite Bürgermeister. Ganz nett, ja. Aber Erster Bürgermeister, das war eben doch etwas anderes. Vor allem für jemanden, der kein gebürtiger Leisenberger war. Sicher, Katzeders Vorgänger, Ludwig Hawlic, war auch nicht von hier gewesen, aber ein Nachkriegsflüchtling, der schon seit 1946 für die Belange der Flüchtlinge und ihre Integration gekämpft, nebenbei einen florierenden Betrieb (Gewerbesteuern! Werkswohnungen!) aufgebaut und etliche Preise für sein politisches Wirken kassiert hatte. Da konnte er nicht mithalten, er lebte erst seit zwölf Jahren hier. Aber gerade deshalb wäre das Amt des Ersten Bürgermeisters die absolute Krönung. Man müsste nur wissen, wie es Katzeder ging… Natürlich war er in aller Frühe voller Besorgnis und mit einem Riesenstrauß Blumen im Krankenhaus aufgetaucht – von der dort herumlungernden Presse beifällig vermerkt – aber man hatte ihn nicht vorgelassen. Immerhin konnte keiner sagen, er hätte es nicht versucht.
Mies eigentlich, fand er insgeheim, aber in der Politik galt der Schein eben doch mehr. Ob er Katzeder mochte oder nicht, war egal, solange er den Betroffenen gab, sobald eine Kamera auf ihn gerichtet war.
Dabei mochte er Katzeder, der gemütlich und bodenständig war und dick und harmlos wirkte, was seine Feinde immer wieder leichtsinnig werden ließ. Katzeder sah zwar aus wie aus dem Bauerntheater entlaufen, aber er war auch bauernschlau. Geradezu ausgefuchst und ein exzellenter Wirtschaftskenner, selbst Geschäftsmann und ein heimtückischer Jurist, der zu allem bereit war, wenn es Leisenberg nur nützte. Obendrein völlig unbestechlich. Er nahm nur, was er legal kriegen konnte, und lieferte es bis auf den letzten Cent bei der Stadtkasse ab. Sein Sparprogramm hatte dafür gesorgt, dass Leisenberg finanziell deutlich besser dastand als manch größere Stadt, er hatte solide Betriebe in die Stadt geholt und erbittert gegen Industriegebiete in den Gemeinden gekämpft, die nicht mehr zu Leisenberg gehörten. Sein letzter Coup war die Privatisierung der Städtischen Buslinien gewesen, die seitdem, da zu zwei Firmen gehörend, nicht nur die Fahrpreise gesenkt, sondern auch noch den Service verbessert und einige neue Fahrer engagiert hatten. Wie er das bloß wieder hingekriegt hatte...
Dem Zweiten Bürgermeister blieben dagegen traditionsgemäß Kulturbelange (die bloß kosteten und die Bürger kaum interessierten) und Repräsentationspflichten. Um die großen Dinge kümmerte sich Katzeder immer selbst, und als Nachfolger hatte er sich wohl diesen jungen Dr. Richter ausgeguckt, der als sein treu ergebener Assistent schon Erfahrungen sammeln konnte und bei allen Insidergesprächen dabei war. Im Gegensatz zu ihm!
Schmieder seufzte frustriert. Wenn er Richter aus dem Rennen werfen wollte, musste er es raffiniert anfangen. Nur wie? Sollte er schon eine Kampagne planen? Wenn Katzeder länger außer Gefecht gesetzt wäre, würde eine Nachwahl angesetzt werden, und dann musste er schneller sein als Richter.
Aber wenn er jetzt vorpreschte, sah es ziemlich nach Leichenfledderei aus. Gut, er konnte betonen, dass er im Sinne des leider verhinderten, allseits verehrten Katzeder weitermachen wollte – aber diese Schiene würde schon Richter fahren. Blöde Situation. Es klopfte. Na endlich, vielleicht hatte die Schmalfuß neue Fakten!
Statt Frau Schmalfuß trat aber seine Tochter ein. Sie küsste die Luft neben seiner Wange und er trat hastig zurück, weil ihm ihr extrem herbes Parfum Kopfschmerzen verursachte. „Was gibt es?“
„Weißt du schon, was du tun willst? Es heißt, Katzeder hat einen schweren Herzinfarkt.“
„Ach ja? Eben noch hieß es, kein Kommentar.“
„Ich habe meine Quellen. Der Herzinfarkt ist ziemlich sicher. Wochen im Krankenhaus, dann Reha, dann Schonung – wir brauchen einen Nachfolger für ihn. Was willst du also tun?“
„Seine Nachfolge antreten, ohne zu gierig auszusehen.“ Er lächelte schief.
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