1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Ich nickte beklommen, während einige dumme Hühner kicherten. Was dachten die denn schon wieder? Der Kerl war ungefähr fünfzig, lang und traurig. Wer in dem Alter noch Akademischer Rat war, wurde wohl Zeit seines Lebens nicht mehr mehr. Und wie so jemand bezahlt wurde, konnte ich mir auch vorstellen. Was wollte er wohl? Wie oft hatte ich denn hier schon gefehlt? Während die anderen sich weiter durch den Text arbeiteten, begann ich im Kopf zu rechnen. Das war jetzt die fünfte Semesterwoche, letztes Mal war ich dagewesen, beim ersten Mal garantiert auch, schon wegen der Teilnehmerliste... Hatte ich also schon zweimal gefehlt? Hatte ich letztes Mal gewusst, wo wir waren? Und woher? Doch, ich hatte bis jetzt nur einmal gefehlt, ich war mir ziemlich sicher. Etwas abgelenkt verfolgte ich den Text weiter und meldete mich gleich noch einmal, war aber doch froh, als die Stunde beendet war. Brav wartete ich neben dem Pult, während der Kursleiter seine Bücher in eine richtige uralte Schülerschultasche einräumte. Ich schielte, aber da stand leider doch nicht sein Name samt Klasse 5 a mit Tintenstift auf der Innenseite der Klappe. Das hätte wirklich gerade noch gefehlt! „Sie wollten mich sprechen?“
„Ja, Frau – Limmer. Sie haben vor zwei Wochen gefehlt, nicht wahr?“
„Ja, das tut mir Leid, in der Woche ging es mir wirklich schlecht, ich hatte eine Art Darmgrippe.“ Darmgrippe war prima, alle Welt war sofort voller Mitleid, weil man damit ja wirklich an sein Badezimmer gefesselt war. Mit dieser Entschuldigung erweckte man nie Misstrauen, eher Bewunderung dafür, dass man eine so peinliche Krankheit ehrlich gestand. Überhaupt – je weniger dekorativ die Krankheit, desto überzeugender die Ausrede! Mit so etwas Malerischem wie Migräne (ohne Kotzen) konnte man keinen Eindruck schinden, aber mit einer Nacht, in der man sich pausenlos übergeben hatte, schon.
„Nun, das kann ja mal passieren“, meinte er dementsprechend gnädig, „aber da haben Sie wahrscheinlich nicht mitbekommen, dass wir in der nächsten Woche eine Zwischenklausur schreiben, die auch zur Note des Scheins beiträgt. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen.“
Ich bedankte mich artig für den Tipp. Mist, da musste ich ja richtig lernen!
„Was habe ich denn in dieser Stunde verpasst?“, erkundigte ich mich sicherheitshalber. Er lächelte beruhigend. „Das können Sie alles nachlernen, lesen Sie Zörner , Das Wesen der Commentarii , dann wissen Sie alles Nötige.“
Wahrscheinlich wieder so ein Schinken, der überall ausgeliehen war, überlegte ich mir ärgerlich, zwang ein falsches Lächeln in mein Gesicht und verabschiedete mich. Bis zur Tacitus-Vorlesung hatte ich noch zwanzig Minuten – genug für die Bibliothek? Ich rannte die Treppen hinunter in den muffigen Kellerraum und wühlte mich durch den altmodischen Karteikarten-Katalog. Wann stellten die endlich mal auf Computer um? 2Cae27, murmelte ich vor mich hin und sauste die Regale entlang. Da, tatsächlich – und es war nur ein Artikel, den konnte ich sofort kopieren.
Ich kassierte zwar einen Anschnauzer von der Aufsicht, als ich flüsternd die anderen Benutzer belästigte, ob sie mir fünf Mark wechseln konnten, aber schließlich hatte ich das passende Kleingeld, und – oh Wunder – der altersschwache Kopierer war nicht defekt. Ich kopierte siebzehn Seiten und raffte alles glücklich an mich, stopfte das Buch ins Regal zurück, fischte meine Benutzerkarte aus dem Kästchen, schnappte meine Tasche und rannte wieder hinauf in den kleinen Hörsaal neben dem Hinterausgang. Ich schaffte es sogar noch, auf einen Platz zu schlüpfen und meinen Block aufzuschlagen, bevor der Professor eintrat. Anscheinend war das Glück doch mit den Tüchtigen! Ich kritzelte ganz klassisch gebildet fortes fortuna adiuvat quer über meinen Block und schrieb dann eine Stunde fieberhaft mit. Zwischendurch gelang es mir sogar, meiner Nachbarin abzuhandeln, dass sie mir ihre Notizen von letzter Stunde kopieren wollte. Dann wäre die Vorlesung – bis jetzt wenigstens – regelrecht vollständig, so etwas war schon länger nicht mehr vorgekommen. Voller Selbstzufriedenheit gönnte ich mir eine Breze am Imbissstand in der Katharinenstraße und kaufte im Drogeriemarkt nebenan noch eine Flasche Gardinenwaschmittel Marke Superweiß. Die vielen Warnhinweise, die auf brutalste Chlorbestandteile hinwiesen, erschienen mir sehr viel versprechend.
Die Kassiererin musterte mich zweifelnd. „Wollen Sie das Zeug wirklich? Es ist umweltschädlich und hochgiftig, wir haben auch viel verträglichere Mittel in unserem Sortiment.“
„Ich glaub´s Ihnen, aber ich muss Kneipengardinen waschen, ich glaube, die hängen schon seit Jahren.“
Sie lachte. „Na, damit kriegen Sie sie sicher weiß, aber es kann sein, dass das Zeug Löcher hineinfrisst. Achten Sie genau auf die Dosierung, nehmen Sie ja nicht mehr! Eine Kundin hat sich schon mal beschwert, dass sie damit ihre Wäsche ruiniert hat. Wir sollten den Mist gar nicht mehr führen, das eignet sich besser zum Kloputzen als zum Gardinenwaschen.“
„Ausgezeichnet, dann kippe ich die gebrauchte Lauge ins Klo und habe gleich noch etwas erledigt“, flachste ich und zahlte. Sicherheitshalber verbarg ich die Flasche aber ganz unten in meiner Tasche – nicht, dass mich in der Stilübung arglos-tugendhafte Augen über Latzhosen und Lamapullis vorwurfsvoll musterten.
Die Stilübungen waren wie immer eher langweilig, aber wenigstens konnte ich meine Übungsaufgaben mitkorrigieren und feststellen, dass es bei mir – wie immer – an der Zeitenfolge, am Konjunktionengebrauch und an der Sicherheit in den Konstruktionen haperte. Wieso war das hier gar kein ablativus absolutus ? Fragen wollte ich nicht so gerne, vielleicht war das etwas ganz Elementares, und ich würde mich als völlige Idiotin outen – oder doch wenigstens als jemand, der in den vergangenen Stunden nur physisch oder überhaupt nicht dagewesen war. Ich verbesserte mit Rot und hoffte, dass ich mich später aufraffen konnte, diese Lücken auch zu schließen, ein Übungsbuch zur Syntax hatte ich ja zu Hause, gerade, dass ich es aus seiner Folie genommen hatte.
Endlich war auch diese Veranstaltung vorbei und befreit eilte ich aus dem Hörsaal. Wenigstens fragte hier niemand, warum ich in der letzten Woche gefehlt hatte – dieser Kursleiterin war egal, wer kam, jeder durfte die Klausur mitschreiben. Wer nie mitgearbeitet hatte, würde sie wohl ohnehin nicht bestehen... Hoffentlich ging es mir nicht so, aber bis Februar müsste ich die gröbsten Lücken doch noch schließen können!
Ich trabte flott nach Hause, um meine Unitasche loszuwerden und außer der Brutalbleiche noch einiges mitzunehmen, was mir beim Putzen nützen konnte. Ach ja, die Poster brauchte ich auch noch – und Schere und Tesafilm – oder besser diese Posterklebestreifen, wo waren die schon wieder? Hatte ich die nicht in die oberste Schublade-? Schließlich hatte ich alles gefunden und in meine Tasche geworfen, mich noch einmal flüchtig gepudert und parfümiert und eilte wieder aus der Wohnung. Von Anke war nichts zu sehen, die hatte bis drei eine Examensübung in Französisch. Ich legte ihr einen Zettel hin, auf dem ich ihr das tiefgefrorene Frikassee empfahl und den vorgekochten Reis, alles ganz vorne im Gefrierfach, und mit der Mikrowelle musste doch sogar Anke zurechtkommen?
Kurz vor zwei betrat ich Rudis Rastplatz . Wirklich, der Name musste weg!
Rudi polierte Gläser hinter der Theke und strahlte, als er mich sah. „Schön, dass du schon da bist!“ Ach, waren wir jetzt per du? Na, wenn er das wollte, er war schließlich der Chef.
„Das hatten wir doch so ausgemacht?“, antwortete ich nur.
„Hast du eine Ahnung, wie viel Termine ich schon ausgemacht habe, die dann nie eingehalten wurden. Willst du wirklich die Fenster putzen?“
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