1 ...7 8 9 11 12 13 ...39 „Berengar“, korrigierte Bergos leise.
„Schön, also diese Berengar… Sie müssen ein Stück durch das Gebiet der Mentever bevor sie unser Land betreten, nicht wahr? Warum gehen sie so ein Risiko ein? Sie nahmen nichts mit, außer Frauen und Kindern, und die finden sie auch in den Dörfern Mentevas.“
„Es war eine sinnlose Bluttat“, stimmte ein Auraträger grimmig zu. „Welcher Sinn kann schon dahinter stehen, einem anderen Wesen das Leben zu nehmen? Nichts als der nackte Wahnsinn.“
„Es muss einen Sinn haben“, erwiderte Bergos. „Nichts geschieht im Kreislauf des Lebens, ohne dass es einen tieferen Sinn hat. Er ist uns nur verborgen.“
„Dann sollten wir die Prophetin fragen.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich und Bergos nickte. „Das sehe ich ebenso. Ich habe sie bereits darauf vorbereitet, das wir ihren Rat benötigen.“
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“ Kender erhob sich. „Dieses Gemetzel in Ayan bereitet mir großes Unbehagen. Ich fürchte diese Bestien werden eines Tages zurückkehren und wir müssen uns darauf vorbereiten.“
Einer der anderen Männer räusperte sich. „Was ist mit Ayan? Lebt es wieder?“
„Natürlich.“ Bergos erhob sich nun ebenfalls. „Wir können die Kegelbäume nicht alleine lassen. So, wie wir sie als Heimstatt benötigen, brauchen die Bäume unseren Beistand gegen die Käfer. Einige Familien sind schon nach Ayan umgesiedelt und andere werden bald folgen. Ich, äh, haben ihnen zugesichert, dass immer zwei von uns Auraträgern in der Nähe sein werden.“
„Dem stimme ich zu“, sagte Kender. „Und nun sollten wir zur Prophetin gehen.“
Bergos runzelte die Stirn und sah Kender mahnend an, als der zum Ausgang eilen wollte. Errötend hielt sich der jüngere Mann zurück und ließ Bergos den ihm zustehenden Vortritt.
Vor der Ratshalle hatte sich eine schweigende Menge versammelt. Der Respekt vor den Auraträgern verhinderte, dass man ihnen Fragen zurief, deren Antworten die Männer ohnehin noch nicht kannten. Als die Menge sah, wohin sich die Ratsmitglieder begaben, folgte sie ihnen in einigem Abstand. Der Weg zum Tempel war nicht weit. Die beiden Bauten lagen einige hundert Meter außerhalb des Waldes von Ayanteal, umgeben von Gras und Blumen. Insekten erhoben sich von den Blüten, aufgeschreckt von den Schritten der vielen Menschen. Schließlich erreichten die Enoderi den Ort, an dem die Weise Prophetin lebte und wirkte.
Der Tempel war auf einem sanft ansteigenden Hügel erbaut worden. Ein mit Steinplatten ausgelegter Weg führte zu dem Gebäude, das in seiner Form an einen Kegelbaum erinnerte. Es war allerdings ungleich kleiner und bestand aus weißem Holz, von dem sich die tiefgrünen Blätter deutlich abhoben. Es war lebendes Holz und somit ein lebendes Gebäude. Nirgends sonst hatte man eine Pflanze gefunden, die aus weißem Holz wuchs. Die Blüten wiesen auch nicht die übliche ovale Form auf, sondern waren dreieckig und ihre stumpfen Enden wiesen nach außen. Es gab auch nicht die Fangwurzeln eines Kegelbaums und obwohl der Tempel der Prophetin lebte, gab es keine Baumhüterin, die ihn beeinflussen konnte. Er fügte sich nur dem Willen der Weisen Frau, so wie sich die Enoderi ihren Prophezeiungen fügten.
Die Platten des Steinweges waren nicht in Stufen verlegt. Einem gleichmäßigen weißen Band gleich, stieg er sanft zum Tempel empor. Selbst wenn im Winter Schnee und Eis das Land bedeckten, blieb dieser Weg immer frei. Bergos hatte sich einmal in einem, wie er hoffte, unbeobachtetem Augenblick gebückt und die Platten betastet. Sie waren warm gewesen. Wie ein lebendes Wesen, dabei bestanden sie aus totem Material. Kein Enoderi konnte toten Stein beherrschen, aber die Prophetin schien über diese Gabe zu verfügen.
„Wer begehrt Einlass?“
Es war eine wesenlose Stimme, die in ihren Köpfen zu schwingen schien.
Bergos hatte den Eingang des Tempels noch nicht ganz erreicht und nun verharrte er. „Der Rat der Auraträger sucht die Prophezeiung der Weisen Frau.“
„Dann tretet ein und fügt euch dem Willen der Göttin.“
Vor ihnen wichen die Wände des Tempels auseinander. Ein von Licht durchfluteter Raum wurde sichtbar. Er war beinahe so groß wie die Ratshalle und wirkte Ehrfurcht gebietend in seiner Bescheidenheit. Eine hohe Kuppel aus weißem Holz und grünen Blättern, ohne schmückendes Beiwerk. Im Hintergrund war eine Schlafstelle zu sehen, dazu ein paar einfache Möbel. Der Raum wurde von zwei Dingen beherrscht. Dem Altar der Prophezeiung und von der Prophetin selbst.
Die Prophetin hatte keinen Namen. Vielleicht hatte sie ihn einst besessen, aber die Jahre hatten ihn unwichtig werden lassen. Sie war eine schlanke Frau mit schlohweißem Haar und unbestimmbarem Alter. Sie war alt, sehr alt und doch zeigte ihr Antlitz jugendliche Züge. Nur die Augen verrieten die Last eines langen Lebens und zu vieler Sorgen um ihr Volk. Die Prophetin trug eine schlichte rote Robe, ohne jeden Schmuck oder ein Symbol, denn sie selbst war das Symbol der Prophezeiung.
„Tretet ein, ihr Träger der Aura. Teilt eure Gedanken mit mir und hört, was die Prophezeiung euch zu sagen hat.“ Dies war nun unzweifelhaft die Stimme der Prophetin. Sie war angenehm und leise, und doch erfüllte sie den Raum.
Die Männer verteilten sich entlang der Rundwand, schwiegen ehrfurchtsvoll und überließen es Bergos zu sprechen.
„Wir suchen deinen weisen Rat, denn die Gemeinschaft von Ayan fiel einem blutigen Überfall zum Opfer. Wir wissen, dass es Krieger des Volkes der Berengar waren und müssen nun erfahren, ob uns weitere Gefahr droht.“ Bergos räusperte sich. „Und ob die Kraft der Auraträger ausreichen wird, ihr zu begegnen.“
„Ich erfuhr davon.“ Die Prophetin wandte sich mit unbewegtem Gesicht dem Altar zu. „Und ihr werdet erfahren, was die Prophezeiung euch enthüllt.“
Der Altar. Ein schlichter Kegel aus weißem Stein, auf seiner breiten Basis ruhend. Er war glatt poliert und zwei Hände breit über der Spitze des Kegels loderte die ewige Flamme der Göttin. Ein weißes Licht, das trotz seiner Helligkeit nicht in den Augen schmerzte.
Die Weise Frau, Prophetin der Enoderi, wandte sich dem Altar zu, streckte ihre Arme aus und drehte die geöffneten Handflächen der Flamme entgegen. In dem weißen Flackern wurden rote Schlieren sichtbar, die sich ausdehnten und wieder zusammen zogen. „Flamme der Weissagung, deine Dienerin bittet um deine Kraft. Blut wurde vergossen und der Kreislauf des Lebens unterbrochen. Zeige uns den Weg, den dein Volk beschreiten soll.“
Das Glühen veränderte sich, nahm ein sanftes Grün an und dehnte sich weiter aus. Nebel schien um die Handflächen der Prophetin zu wallen, formte sich zu einem Ring, der, von den Händen der Weisen Frau ausgehend, um die ewige Flamme kreiste.
Einer der Auraträger hüstelte erregt und Bergos warf ihm rasch einen mahnenden Blick zu. Nichts durfte die Konzentration der Prophetin stören.
„Gefahr droht den Menschenvölkern.“ Es war die Prophetin, die diese Worte aussprach, aber es war gewiss nicht ihre Stimme. „Ein fernes Volk wird das Land mit Blut überziehen. Nichts wird verschont und nichts bleibt bestehen. Finsternis liegt über den Kindern der Göttin. Der Kreislauf des Lebens droht zu zerbrechen. Aber in der Finsternis wird ein Licht erstrahlen. Eine Aura, so mächtig, wie sie nie zuvor entstanden ist. Diese Aura wird Leben nehmen, um Leben zu gewähren.“
Der Ring aus Nebel löste sich auf und das Wallen begann dem steten Licht der ewigen Flamme zu weichen. Durch die Prophetin schien ein unmerklicher Ruck zu gehen und sie stöhnte leise auf. Dann drehte sie sich den Auraträgern zu und ließ ihre Arme sinken. „Dies sind die Worte der Prophezeiung. Die Worte der Weisheit und der Flamme des Lebens.“
Bergos Ma´ara´than verneigte sich und die anderen folgten seinem Beispiel. „Wir danken dir, Prophetin und werden über deine Worte beraten.“
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