„So früh? Anscheinend hattest du einen anstrengenden Tag“, bemerkte sie halb ernst halb im Spaß.
„Stimmt. Ich musste mein Zeugnis auspacken, es in eine Folie legen und dann in einem Ordner verstauen.“
„Oje, du Ärmster. Das klingt nach Knochenarbeit“, sagte sie mitleidsvoll und wechselte gleich das Thema. „Hast du schon eine Assistentenstelle?“
„Offen gestanden, ich wollte mir etwas Freizeit gönnen.“
Daraufhin erzählte sie ihm mit gekonnter Eloquenz von den Vorteilen der Inneren Medizin und überzeugte ihn innerhalb von nur zwei Minuten, die Stelle bei ihrem Mann anzutreten. Jedes Mal, wenn er daran dachte, musste er grinsen.
Emins 3-Zimmer-Wohnung im Dachgeschoss lag in der Fußgängerzone, direkt im Zentrum von Ingolstadt. Er hatte eine geräumige Terrasse zur Südseite, deren Brüstung er mit verschiedenen Geranien bepflanzt hatte. An den dienstfreien Tagen setzte er sich hin, frühstückte gemütlich oder trank einfach eine Tasse Kaffee und betrachtete die Leute. In den Sommermonaten verwandelte sich die Fußgängerzone bereits in den ersten sonnigen Morgenstunden in eine Urlaubsinsel irgendwo in der Karibik oder in eine Piazza in Italien. Eisdielen, Cafés, kleine Tischen und Stühle im Freien, große Blumentöpfe am Ladeneingang, herum lärmende Kinder. Das Paradies auf Erden.
Wenn er abends aus der Klinik kam und es noch hell war, setzte er sich gerne in die kleine Eisdiele Maurizio, trank dort einen Espresso doppio und aß anschließend einen großen Becher gemischtes Eis mit viel Krokant, den der Besitzer, er hieß tatsächlich Maurizio, extra für ihn zubereitete.
Maurizio war ein kleiner Italiener aus Sizilien und machte das beste Eis in Ingolstadt. Er erzählte allen, dass er sein Eis nach einem speziellen Rezept des Großvaters zubereitete. Seine Familie sei seit Generationen Eishersteller. Oft stand er minutenlang in der Sonne und betrachtete aus der Entfernung die Gesichter seiner Kunden. Er wollte, dass jeder seinen Laden mit einem zufriedenen Gesicht verließ.
„Ich habe heute etwas Besonderes für Sie, Dottore“, sagte Maurizio mit seinem italienischen Akzent. Emin mochte diesen Akzent und hörte Maurizio gerne zu.
Maurizios Gesicht strahlte voller Stolz und Freude. Auf seinen dicken Wangen bildeten sich zwei tiefe Grübchen. Er brachte einen kleinen Teller mit drei dünnen Streifen, die unten gelb und oben rot waren.
„Was ist das?“ fragte er neugierig den Italiener, der grinsend danebenstand und auf Emins Frage wartete.
„Das ist etwas Neues“, verriet Maurizio. „Ich habe es selbst gemacht und Sie, Dottore, sind meine Testperson.“
Emin hätte schwören können, dass er, wie immer, hinzufügte, er habe es nach einem Geheimre zept seines Großvaters zubereitet. Er wartete etwa eine Minute vergeblich. Maurizio sprach nicht weiter. Das Telefon der Eisdiele läutete und Maurizio ging hinein. Nach zwei Minuten kam er zurück und setzte sich zu Emin. „Und, Dottore?“, fragte er erwartungsvoll.
„Sehr gut, köstlich“, antwortete Emin. Er spitzte dabei seine Lippen und küsste den an den Kuppen zusammengefügten Daumen und Zeigefinger.
„Habe ich den Test bestanden?“, fragte Maurizio erneut.
„Sogar mit der besten Note.“ Emin schmatzte diesmal mit den Lippen. „Wollen Sie mir nicht verraten, was das ist?“
„Das ist Zuppa romana und ist eine Spezialität von …“
„Ihrem Großvater“, unterbrach Emin mit einem zufriedenen Lächeln.
„Stimmt, Dottore! Woher wussten Sie es? Mein Großvater war im Dorf in Sicilia, wissen Sie? Er war der erste, der Zuppa romana gemacht hat.“
„Ihr Großvater war sicherlich ein Genie“, schmunzelte Emin und war schließlich doch froh, dass Maurizio ihm die Entstehungsgeschichte der Zuppa romana in allen Details zu erzählen begann.
München, Juni 2002
Emin war 31 Jahre alt, 175 cm groß und wog 69 kg. Obwohl er, bis auf die seltenen Schwimmbadbesuche in den Sommermonaten, so gut wie nie Sport trieb, sah er ziemlich athletisch aus. Die grünen, freundlich strahlenden Augen erbte er eindeutig von seiner Mutter. Die breiten vollen Lippen waren stets gut durchblutet und verliehen ihm eine gewisse Erotik. Bereits in der ersten Stunde des Anatomiekurses, in dem er mit Tanja zusammen an derselben Leiche präparierte, sagte sie ihm, dass sie ihn um seine erotischen Lippen beneidete.
Emins Praxis lag in der Nähe von München Ostbahnhof, an der Kreuzung Pariserstraße und Wörthstraße im zweiten Stock eines Hauses aus dem Jahre 1965. Damals muss es sicherlich ein recht modernes Haus gewesen sein. Denn sämtliche Sanitär- und Elektroanlagen funktionierten immer noch einwandfrei. Bei der Sanierung vor einem Jahr bekamen die Wände neuen Verputz und Anstrich. Die zitronengelbe Farbe verlieh dem Haus ein freundliches und frühlingshaftes Flair. Die kleinen Balkone, auf die nicht einmal zwei Menschen passten, ließ der Hauseigentümer, ein kleiner Bayer, orange anstreichen. Er liebte Italien und dort vor allem die Cinque Terre . Deswegen bemühte er sich stets, in seinem sämtlichen Gehabe italienisch zu wirken. Er besuchte nicht nur eine Sprachschule, um Italienisch zu lernen, sondern auch einen italienischen Kochkurs.
Emin gefiel das Haus. Das Einzige, was ihn störte, waren die Fenster. Obwohl sie aus Doppelscheiben bestanden, isolierten sie bestimmte Laute nicht, wie das Vorbeifahren der Trambahnen, Hupen der Autos oder das Knattern eines vorbeirasenden Mopeds. Da es sich sowohl bei der Pariser- als auch bei der Wörthstraße um belebte Straßen handelte, kam es immer wieder zu Unterbrechungen bei der Untersuchung, vor allem wenn er mit seinem Stethoskop das Herz abhörte und sich auf die anormalen Herzgeräusche konzentrieren musste. An sich verfügte er über ein gutes Gehör und ließ sich bei der Herzauskultation Zeit. Trotzdem brachte ihn der Straßenlärm immer wieder aus dem Konzept, so dass er an einen Umzug in eine ruhigere Gegend wünschte.
„Herr Cevat Korkmaz ist im Zimmer 2, Herr Doktor“ kündigte Selma, die Arzthelferin mit den langen schwarzen Haaren voller Locken.
Cevat Korkmaz war ein relativ kleiner Mann um 45 und hatte einen dünnen Schnurrbart, den er offensichtlich regelmäßig färbte. Denn die Kopfhaare, Augenbrauen, die aus dem Kragenbereich herausquellende Brusthaare, ja sogar seine Wimpern; alle Haare an ihm waren grau.
Emin kam aus dem Zimmer 1 und drückte dem Patienten freundlich die Hand. „Was kann ich für dich tun, Bruder Cevat?“
Ob alt oder jung, ob Mann oder Frau, duzte er grundsätzlich jeden Patienten. Auch sie duzten ihn. Außerdem sprach er die jungen Patienten mit Bruder oder Schwester, und die älteren mit Onkel bzw. Tante an, als wären sie Mitglieder seiner eigenen Familie. Er war für die meisten Patienten der Bruder Emin . Ältere Patienten nannten ihn, je nach ihrem Alter oder wie sie sich ihm gegenüber fühlten mein Sohn oder mein Neffe .
„Seit etwa zwei Tagen habe ich ein komisches Gefühl in meinem Körper, Bruder Emin“, berichtete der Patient mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme.
„Was für ein Gefühl ist es denn? Kannst Du es mir etwas näher beschreiben?“, fragte Emin und betrachtete das Gesicht des Patienten, der absolut nicht krank wirkte.
„Ja, klar. Jedes Mal, wenn ich mein Hemd an- oder ausziehe, stehen mir die Haare zu Berge.“
„Passiert es nur bei dem Hemd? Oder auch bei den andren Sachen, wie z. B. Unterwäsche oder Hose?“
„Nein nur bei dem Hemd.“
Für Emin war es klar. Er unterdrückte ein Lachen. „Kann es sein, dass du dieses Hemd erst vor zwei Tagen gekauft hast?“
„Ja, das stimmt. Woher wusstest du das? Das ist ja Zauberei!“, antwortete der Patient überrascht.
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