1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 „Und meine Nieren? Ich habe immer wieder auch Schmerzen hier in der Nierengegend." Tayfun zeigte auf seine rechte Flanke.
Emin schwenkte den Ultraschallkopf in alle Richtungen und ging den gesamten Bauchraum systematisch durch. „Nein, nein, weder an der rechten, noch an der linken Niere kann ich irgendetwas Krankhaftes erkennen. Bis auf die Gallensteine ist alles bestens. Die Bauchspeicheldrüse, die Leber und, ich sage es noch einmal, beide Nieren sind bestens in Ordnung. Sicherheitshalber möchte ich aber trotzdem den Urin kontrollieren. Dann kann ich dadurch auch eine Entzündung, die ich im Ultraschall nicht sehen kann, feststellen. Weißt du, wo die Toiletten sind?“
„Ja, gleich rechts beim Eingang“, antwortete Tayfun.
„O. K. Ich sage den Damen Bescheid. Und nachdem du Urin abgegeben hast, sehen wir uns wieder und besprechen das weitere Vorgehen.“ Er wies Necla Nareli, seine dritte Helferin, an, bei Tayfun Tatlidil den Urin zu untersuchen und anschließend ihn zur Befundbesprechung in das nächste freiwerdende Zimmer zu setzen. Währenddessen ging er seiner Arbeit nach und untersuchte die Patienten.
Nach etwa zwanzig Minuten spürte er pulsierende Schmerzen an den Schläfen. Seine Konzentration ließ nach. Für ihn hieß es, er benötigte sofort eine Pause. Er ging in sein Zimmer und drückte auf den Knopf für die Zubereitung einer großen Tasse Kaffee. Ihm fiel die deutsche Patientin ein, die aus Holzkirchen kam; und zwar pro Quartal nur ein einziges Mal. Sie vereinbarte nie einen Termin und wartete im Gegensatz zu anderen Patienten geduldig im Wartezimmer. Sie war seit drei Jahren pensioniert und hatte ein rundes freundliches Gesicht. Das häufige Lachen hinterließ feine Falten um ihre schmalen Lippen.
Bei der ersten Vorstellung dachte Emin, dass sie sich bei der Adresse ihres Arztes geirrt hatte. Denn den Hauptanteil seiner Patienten bildeten seine Landsleute. Diejenigen, die zu ihm kamen und keine Landsleute waren, wohnten in unmittelbarer Nähe der Praxis. Nach der zweiten Konsultation wurde seine Neugier größer.
„Frau Schmidt, ich finde es zwar schön und dankenswert, dass Sie den Weg nicht scheuen und aus Holzkirchen zu mir kommen. Mir ist allerdings aufgefallen, dass Sie nur ein einziges Mal im Quartal zu mir kommen, ohne einen Termin zu vereinbaren. Sie lassen sich hier ausgerechnet an den Tagen blicken, an denen die Praxis aus allen Nähten platzt. Darf ich Sie nach dem Grund fragen?"
Frau Schmidt lächelte. Ihre Augen glänzten wie eine feuchte Murmel, die von einer starken Lichtquelle angestrahlt wurden. „Wissen Sie Herr Doktor“, fing sie an. „Vor fünf Jahren war ich in der Türkei, besser gesagt in Istanbul im Urlaub. Es war ein wunderschöner Urlaub.“
„Das freut mich“, bemerkte er.
„Dort war ich in dem Bazar. Wie heißt der auf Türkisch noch mal?“ fragte sie nachdenklich.
„Meinen Sie den Kapali Carsi ?“, wollte er wissen.
„Genau, den meine ich. Den berühmten Kapali Carsi !“, bestätigte sie.
„Und was ist mit dem?“
„Ich bin fast jeden Tag hingegangen und habe die Atmosphäre mit der lauten Musik, die aus den Läden herausquoll, dem Geschrei der Verkäufer, den Kunden, den Teehäusern und, und, und … richtig genossen. Wissen Sie, für mich ist das das richtige Leben“
„Ahah, interessant“, bemerkte er diesmal und nickte mit dem Kopf.
„Das war, wie gesagt mein schönster Urlaub. Nun bin ich Rentnerin und kann mir keinen Urlaub mehr leisten. Alles ist so teuer geworden, vor allem für die Rentner mit geringem Einkommen“, fuhr sie traurig fort.
Emin machte ein mitfühlendes Gesicht, sagte allerdings nichts. Gespannt wartete er auf die Pointe ihrer Erzählung. Eine Zeitlang sprach keiner von beiden. Als er kurz davor war, sie danach zu fragen, reagierte Frau Schmidt schneller und sprach weiter. „Sie fragen sich sicherlich, was das sein soll. Oder?“
„Nicht ganz. Ich hätte nur gerne gewusst, wo der Zusammenhang zwischen Ihrem Urlaub und meiner Praxis liegt.“
„Wissen Sie Herr Doktor? Jedes Mal, wenn ich zu Ihnen in die Praxis komme und mich ins Wartezimmer setze, fühle ich mich wie im Urlaub, wie in diesem Kapali Carsi . Und ich genieße es.“
„Wie weit ist der Urinbefund von Herrn Tayfun Tatlidil“, fragte Emin seine Helferin Ayse am Telefon, die wohl gerade etwas aß und schmatzte.
„O. B.“, antwortete sie als Kürzel für ohne Befund, nachdem sie den Bissen schnell heruntergeschluckt hatte.
„Und das Sediment?“
„Ebenfalls o. B.“
„Kannst du ihn dann bitte in das nächste freiwerdende Zimmer setzen?“
„Er sitzt schon im Zimmer eins.“
„Danke“, sagte er und legte auf.
Tayfun saß gespannt auf dem Stuhl, als Emin ins Zimmer kam. Er hielt seinen Kopf mit beiden Händen am Kinn, wobei seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch ruhten. Sobald er Emin wahrnahm, änderte er seine Haltung und setzte sich aufrecht hin. Die ausgestreckten Beine zog er zurück und legte beide Hände auf die Knie.
„Soooo“, sagte Emin und nahm Platz auf dem Sessel, der wie immer quietschte. Er bewegte die Maus hin und her, damit der Bildschirmschoner die Arbeitsmaske freigab. Tayfuns persönliche Daten samt Untersuchungsergebnissen füllten den Monitor. „Nun, lieber Bruder, dass du mehrere Gallensteine hast, habe ich dir bereits gesagt“, fing er an.
„Ja, das hast du“, erwiderte Tayfun und bestätigte es zusätzlich mit einem Kopfnicken.
„Dass deine Schmerzen rechts am Oberbauch auch davonkommen, habe ich dir ebenfalls gesagt, glaube ich."
„Ja, auch das hast du gesagt“, wiederholte Tayfun.
„Im Ultraschall konnte ich ansonsten nichts Auffälliges feststellen.“
„Auch das hast du bereits gesagt.“
„Die anderen Schmerzen, die du rechts in der Flanke hast, kommen mit Sicherheit nicht aus der Niere. Ich sage es noch einmal. Im Ultraschall konnte ich beide Nieren gut darstellen und…“
„Und nichts Auffälliges feststellen“, unterbrach ihn Tayfun mit etwas Stolz, dass er schneller war als Emin.
„So ist es. Auch die Urinuntersuchung fiel negativ aus. Das heißt unauffällig.“
„Und woher kommen dann diese Nierenschmerzen?“ wiederholte der Patient, als hoffte er, Emin würde irgendwann seine Meinung ändern.
„Deine Schmerzen, das kannst du mir wirklich glauben, haben mit deiner rechten Niere nichts aber gar nichts zu tun“, insistierte Emin.
„O. K. Und die Gallensteine? Was mache ich mit denen?“
„Solange du die Steine mit dir trägst, wirst du immer wieder Schmerzen haben."
„Wie oft?“, wollte Tayfun erfahren. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne, um die Antwort auf seine Frage besser zu hören.
„Das weiß nur der liebe Gott“, erwiderte Emin und fuhr dann fort. „Es kann sein, dass du diese Schmerzen nach einer Woche erneut bekommst, oder nach einem Monat oder nach drei Tagen. Daher würde ich dir doch die Operation empfehlen."
Das Wort Operation erschreckte Tayfun, so dass er tief einatmete. Seine Mimik verriet sofort, dass er mit dem ärztlichen Vorschlag nicht einverstanden war. Tayfun stellte ihm zahlreiche Fragen, ob man ohne Gallenblasen überhaupt leben könnte, ob das die einzige Therapiemöglichkeit wäre usw. Emin beantwortete alle Fragen geduldig und machte ihm darauf aufmerksam, dass bei einer Einklemmung der Steine im Gallengang eine Notoperation erforderlich sei und diese mit einem höheren Operationsrisiko einhergehe.
„Ich habe einfach Angst“, gab Tayfun offen zu und verzog sein Gesicht wie ein kleines Kind.
„Ich habe volles Verständnis“, kam aus Emins Mund.
Tayfun bat ihn um Bedenkzeit und verließ mit einem Rezept über ein Schmerzmittel die Praxis.
Iskenderun (Türkei), Juli 2002
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