Möglichst dicht an der Wahrheit
Ein Drama
Berlin, Paris, Marseille, München
1940/41 und 1975
Klaus Wickel
Zusammenfassung
Möglichst dicht an der Wahrheit
Marseille 1940-41 war Falle und Tor zur Freiheit für unzählige Emigranten aus Deutschland vor dem Einmarsch der Deutschen in das noch unbesetzte Vichy Frankreich. Ein Entkommen mit dem Schiff oder über die Pyrenäen war fast nur möglich mit Hilfe ausländischer, insbesondere amerikanischer, Hilfsorganisationen.
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Frank Nickel, 1975 64 Jahre alt, amerikanischer Emigrant aus Deutschland, leitet in München eine Dependance seines New Yorker Marktforschungsinstituts. Sein Sohn Jan arbeitet bei München als Berater des Bonner Verteidigungsministeriums.
Als Frank Nickel, nach einem US Aufenthalt, wieder in München auf seinem Anrufbeantworter die letzten Worte seiner in Hannover ermordeten Ex-Frau Carola hört, “ ich weiß wer Frank Nickel ist ”, kann er das Geheimnis um Marseille der Jahre 1940-41 nicht länger seinem Sohn Jan und dessen jüdischer Frau Gabi verheimlichen. Jan, seit seiner Kindheit von Misstrauen gegenüber seinen Eltern geplagt, erfährt die wahre Geschichte ihrer Flucht aus Berlin mit dem dreijährigen Sohn über Prag, Paris und Marseille nach Amerika.
Die Begegnung in Marseille mit einem Jungendfreund und einer deutschen Jüdin im Widerstand führt zu einer Katastrophe. Die Geschichte pendelt zwischen den dramatischen Ereignissen in Marseille und der spannenden Suche nach einer Erklärung 1975 in Deutschland..
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Nach einer Jugend in den USA und einem Studium in Deutschland arbeitete Klaus Wickel als Berater deutscher Bundesministerien und internationaler Organisationen. Sein erster Roman “GI Franks Tochter” wurde 2003 veröffentlicht neben Kurzgeschichten in Anthologien.
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Die Wohnung wirkte verlassen, obwohl Carola dort niemals gewohnt hatte. Frank Nickel fröstelte als sei die Kälte ihrer Leiche im Wasser der Leine durch die Fenster- und Türritzen gedrungen. Noch im Mantel ging er in die Küche und nahm die Whiskyflasche und ein Glas mit ins Wohnzimmer. Es roch muffig. Mit dem Glas in der Hand trat er ans Fenster und öffnete es weit. Das zarte Rascheln der mächtigen Straßenkastanie im lauen Föhnwind vor seinem Fenster beruhigte ihn. Tief atmete er durch, um die aufkeimende Müdigkeit zu verscheuchen. Selbstvergessen schaute er einen Augenblick auf die menschenleere Amalienstraße. Immer nach New York genoss er die dörfliche Idylle Schwabings.
Im Bad warf er Mantel und Jackett über den Badewannenrand, schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete das nasse Spiegelbild. Kopfnickend stellte er deutliche Spuren des langen Fluges fest. Die Dekadenringe der vierundsechzig Jahre zeichneten sich deutlicher als sonst ab. Kein Wunder, nach der Todesnachricht, tröstete er sich. Noch während er das Licht über dem Spiegel ausknipste, notierte er mental, `Hansen anrufen´, seine Friseurin, denn die an den Schläfen deutlich ergrauten Haare drohten das Ohr zu erreichen.
Er seufzt, ging ins Arbeitszimmer und schaute sich um. Die Tatsache, dass alles am selben Platz wie vor acht Tagen stand, wirkte befremdlich, irgendwie unanständig. Die Dinge verrieten nichts von der Tragödie.
Mit dem Glas in der Hand setzte er sich an den Schreibtisch und schaltete den Anrufbeantworter ein. Es waren acht Gespräche während der letzten Tage im Zählwerk aufgelaufen. Das erste war von einer Managervermittlung in Paris mit der Bitte um Rückruf. Das zweite teilte ihm mit fröhlicher Stimme mit, dass Frank Nickel eine Reise durch die Türkei gewonnen hätte, wenn er die nachfolgende Nummer innerhalb von zwei Tagen wählen würde. Er griente: schon wieder verpasst.
Dann die Sekretärin der Firma Plenk, mit der er vor seiner Abreise Kontakt aufgenommen hatte. Nur die Sekretärin. Kein gutes Zeichen.
Das vierte ließ ihn fast an dem Whisky ersticken. Er erstarrte. Seine Hand umklammerte das Glas. Mit der anderen schlug er panisch auf den Wiederholknopf. Erneut drang Carolas aufgeregte Stimme in sein Gehirn: “Frank, stell dir vor, ich weiß, wer Frank Nickel ist. Ich hab´s eilig. Ruf dich wieder an.”
Mit beiden Händen stützte er sich auf den Schreibtisch, um das Ohr näher an das Gerät zu halten. Noch drei Mal ließ er die Botschaft ablaufen.: “Frank, stell dir vor, ich weiß wer Frank Nickel ist. Ich hab´s eilig. Ruf dich wieder an.”
Die Daten- und Zeitansage des Beantworters hatte er nie aktiviert. Erst die nächste Nachricht eines Bekannten, der den Tag seines Anrufs nannte, machte klar, dass Carola einen Tag nach Franks Abreise und zwei Tage vor ihrem Tod angerufen hatte .
Die letzten Anrufe wirkte wie ein Zeitraffer der Tragödie. Zunächst Jan, stotternd, aufgelöst, mit der Mitteilung, Carola sei bei Hannover ermordet. Dann Gabi, seine Frau, die betont gefasst ergänzte, Jan würde versuchen, ihn in New York zu erreichen. Als sie weitersprechen wollte, versank ihr Stimme in Tränen. Sie hängte auf. Dann die Hannoversche Polizei, die durch Franks Münchener Büro von seiner Reise erfahren hatte und einen Rückruf erbat. Schließlich erneut die Polizei, die für Übermorgen ihren Besuch ankündigte.
Frank saß wie betäubt im Schreibtischsessel und starrte blind auf das Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Ein Geschenk Carolas zu seinem Fünfzigsten. Er sah sie als sei es gestern gewesen. In einem seiner weißen Oberhemden und Jeans stand sie strahlend in der Soho Galerie vor dem Pollok nachempfundenem Bild. Er hatte gelächelt, ahnend, dass es ein Geschenk werden würde.
Dass sie ermordet war, wusste er seit Jans verzweifeltem Anruf in New York vor zwei Tagen. Doch dass sie ihm kurz davor diese Ungeheuerlichkeit mitteilen wollte, ließ ihn nach Luft japsen. Sein Körper fühlte sich an wie einzementiert.
Nach wenigen Minuten erwachte er aus der Erstarrung und griff zum Telefon Seine Ankunftszeit in Riem hatte er verheimlicht, um nicht abgeholt zu werden. Zunächst rief er die Hannoversche Polizei unter der angegebenen Nummer an und machte einen späten Termin für den übernächsten Tag aus. Dann rief er Jan an.
Gabi war am Apparat. Er liebte den britisch gefärbten Akzent ihrer heiseren Stimme, wenn sie Deutsch sprach. Es war ein amüsantes Spiel, wenn sie miteinander redeten und zwischen Amerikanisch beziehungsweise Englisch und Deutsch hin und her pendelten. Doch nun war ihre Stimme nur rau, gebrochen, aber gefasst. “Gut, dass du da bist. Ich komm im Augenblick zu Jan nicht durch. Er drückt sich, verkriecht sich in sich.”
“Bitte, versuch ihn zu überzeugen, übermorgen hierher zu kommen. Die Polizei hätte uns gerne zusammen gesprochen. Wohl um Zeit für einen Münchenbummel zu gewinnen. Auch ich muss euch sehen. Oder soll ich Morgen vorbei kommen”
“Nein, lass Jan etwas Zeit. Erwarten die, dass ich mitkomme?”
“Nein, das nicht.”
“Gut, dann fahre ich Jan nur. Bis gleich.”
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Der Ältere stellte sich vor als Kommissar Krassner, war klein mit rundem, freundlichem Gesicht und der Figur eines Judokämpfers. Der Jüngere schlank, blond und arrogant mit vor Neugierde hervorspringenden braunen Augen, nannte zwar seinen Namen, doch Frank vergaß ihn im selben Augenblick.
Frank stellte seinen Sohn Jan vor und bat die Polizisten ins Wohnzimmer.
Der Ältere kondolierte während der Jüngere aufmerksam die Bilder an den Wänden beäugte. “Sind das alles amerikanische Maler?”, fragte er unerwartet.
“Ja, dort kenne ich eine Galeristin, die mich berät. Hier nicht.”
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