Eirik Newth
Die Jagd nach der Wahrheit
Die unendliche Geschichte der Welterforschung
Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs
Saga
Niemand weiß, wann die Neugier auf der Erde aufgetaucht ist. Vielleicht gab es sie schon bei dem Geschöpf, von dem alle auf dem Land lebenden Tiere abstammen, einer Amphibie (einem Tier, das an Land und im Wasser leben kann), das vor fast 350 Millionen Jahren existiert hat. Diese Amphibie hatte ein winzig kleines Gehirn, und da Neugier vom Gehirn abhängt, empfand dieses Tier vermutlich nicht dieselbe Neugier wie wir. Trotzdem kann es durchaus ein prickelndes Gefühl verspürt haben, als es anfing, das feste Land zu erforschen, diese spannende Welt, in der hundert Millionen Jahre lang nur Pflanzen und Insekten gelebt hatten.
Die Neugier hat sich auf jeden Fall früh eingestellt, sie ist schließlich eine nützliche Eigenschaft. Ein neugieriges Tier erforscht seine Umgebung und hat größere Chancen, dort einen sichereren Wohnort, reichere Jagdgründe und einen Partner zu finden, um sich dann zu vermehren. Solche Entdeckungsreisen sind für kleine Tiere gefährlich, denn in der Natur wimmelt es von hungrigen Fleischfressern; aber die Vorteile der Neugier wiegen die Nachteile dennoch auf.
Jeder hat schon mal beobachtet, wie Katzen und Hunde ihre Schnauzen in alles stecken und wie sie jeden Winkel und jede Ecke im Haus, in dem sie wohnen, auskundschaften. Sie müssen einfach immer wieder auf Entdeckungsreisen gehen. Genauso ist das bei den Schimpansen, die enge Verwandte von uns Menschen sind. Wenn ein Schimpanse etwas Neues und Unbekanntes sieht, zum Beispiel ein Zelt, in dem ein Affenforscher sitzt, dann hat er zuerst Angst und bleibt in sicherer Entfernung. Aber nach einer Weile siegt die Neugier. Der Affe kann sich nicht beherrschen, er muss das Zelt berühren, muss daran riechen und nachsehen, ob es etwas Spannendes oder Essbares enthält.
Bei Menschen und Tieren sind die Kinder neugieriger als die Erwachsenen. Das liegt daran, dass wir durch Neugier das Leben am besten erlernen können. Wenn ein Schimpansenjunges lernen soll, allein zurechtzukommen, kann seine Mutter ihm nicht alles beibringen. Das Kleine muss so neugierig sein, dass es sich traut, auf Bäume zu klettern, alle möglichen Nahrungsmittel zu probieren und in Erfahrung zu bringen, um welche Tiere es lieber einen Bogen machen sollte.
Menschenkinder experimentieren wie Affen, gleichzeitig aber stellen sie auch immer wieder bohrende Fragen. Mit vier oder fünf Jahren beginnt das „Fragealter“. Sobald ein Erwachsener in der Nähe ist, werden die seltsamsten Fragen gestellt, zum Beispiel, warum das Telefon klingelt und was es vor dem Universum gegeben hat. Dieses Fragealter ist eine der wichtigsten Phasen im Leben. Durch Fragen und Antworten legen Kinder sich das Wissen zu, das sie brauchen, um als Erwachsene zurechtzukommen.
Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen der Neugier von Affen und der von Menschen. Anders als die Schimpansen fügen wir Menschen gern Wissensbrocken zu einem Ganzen zusammen, ungefähr so wie bei einem Puzzlespiel. Wir möchten Zusammenhänge finden, begreifen, warum etwas passiert. Diesen seltsamen Drang verspüren wir vermutlich seit mindestens hunderttausend, vielleicht auch dreihunderttausend Jahren, so lange, wie wir unser großes Gehirn haben.
Manches lässt sich leicht erklären. Dass es ohne Wolken keinen Regen geben kann und dass im Sommer die Tage lang sind, konnten auch die Menschen der Urzeit ohne Probleme verstehen. Aber in der Natur gibt es auch viele schwer erklärbare Phänomene. Alltägliche Dinge wie Sonne und Sterne, Blitz und Donner – und neugeborene Kinder – waren große Rätsel. Die Menschen suchten Antworten auf ihre Fragen, aber ihnen fehlten die Hilfsmittel, die wir heute haben. Zum Beispiel ist es von großem Nutzen, schreiben zu können, wenn wir etwas Überraschendes beobachtet haben und uns dazu unsere Gedanken machen, aber die Schrift wurde erst vor 5500 Jahren erfunden. Vorher verflog alles Wissen, das nicht weitererzählt wurde.
Deshalb kann man auch gut verstehen, dass die Menschen glaubten, Gottheiten steckten hinter allem, was sie nicht erklären konnten. Eine Gottheit ist ein Wesen, das viel größere Macht über die Natur besitzt als die Menschen. Die Gottheiten waren oft unsichtbar, sie konnten aber auch Menschen- oder Tiergestalt annehmen. Sie konnten die Menschen bestrafen, sie konnten sie für gutes Benehmen belohnen. Es war wichtig, die Gottheiten milde zu stimmen, und die Menschen beteten sie an und brachten ihnen Opfer, um sich reiche Ernten, gutes Wetter und viele Kinder zu sichern.
Der Sternenhimmel war für Menschen, die an Götter glaubten, besonders wichtig. Während vieles von dem, was in der Natur geschieht, zufällig und unsicher wirkt, vermitteln uns die Sterne ein Gefühl von Sicherheit. Die Sterne wandern auf festen Bahnen über den Himmel, ihr Aussehen ändert sich nicht im Lauf eines Menschenlebens, sie gehen zu festen Zeiten auf und wieder unter. In alten Bauerngesellschaften fanden auch wichtige Ereignisse wie Saat, Ernte und die Geburt der Lämmer immer in derselben Jahreszeit statt.
Da immer dieselben Sterne zu sehen waren, wenn im Herbst das Getreide eingebracht wurde, glaubten die Menschen, die Sterne hätten das Reifen des Korns bewirkt. Die Sterne wurden zu Gottheiten, die das Leben der Menschen lenkten, und die Sterndeuterei wurde deshalb zu einem wichtigen Beruf. Als die Schrift erfunden worden war, wurden darum sehr bald Beobachtungen von Sternen und Planeten notiert. Viele Religionen gehen noch immer davon aus, dass Gott (oder die Gottheiten) oben im Himmel wohnen.
Der Glaube an Götter war für die Menschen von großer Bedeutung, und noch immer ist er vielen wichtig. Aber das Problem dabei ist, dass die Menschen sich dann oft mit den Erklärungen zufrieden geben, die sie in ihrer Religion finden.
Die alten Ägypter hielten zum Beispiel die Sonne für das Auge des Sonnengottes Ra. In Ägypten wurde nicht weiter über die Sonne geforscht, alle wussten schließlich, dass sie Ras Auge ist. Und da in der Bibel steht, Gott habe die Welt innerhalb von sechs Tagen erschaffen, fanden es viele Christen überflüssig, sich für die Entstehung der Erde und des Lebens auf unserem Planeten zu interessieren. Auf diese Weise haben Religionen die Neugier der Menschen stark eingeschränkt. Oft wurden Menschen, die nicht an die Götter glaubten, bestraft, und deshalb behielten sie ihre Gedanken lieber für sich.
So ist es auch kein Wunder, dass die Menschen mehrere hunderttausend Jahre auf der Erde gelebt hatten, ehe sie entdeckten, dass sie auch auf andere Weise denken konnten. Diese wichtige Entdeckung wurde vor gut 2500 Jahren in einem kleinen Land namens Griechenland gemacht.
Wenn man etwas verstehen will, muss man mit einer Frage anfangen. Die Frage braucht nicht besonders gescheit zu sein. Vieles von dem, was wir heute wissen, haben wir gelernt, weil Menschen vor langer Zeit Fragen gestellt haben, die anderen dumm vorkamen. Das hat sich zahllose Male wiederholt, seitdem es auf der Erde neugierige Menschen gibt. Bei der Jagd nach der Wahrheit sind alle Fragen erlaubt, ob sie nun schwieriger sind („Was war vor dem Universum?“) oder einfacher („Warum haben die Marienkäfer Pünktchen?“).
Ab und zu müssen wir auch unsere Forschungen hinterfragen. Eine solche Frage ist: „Was ist Wahrheit?“
Das ist eine einfache Frage. Mit der Antwort sieht es da schon ganz anders aus. Die Forscher sagen gern, in der Natur sei Wahrheit das, was wir mit unseren Sinnen beobachten können, also das, was sich sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken lässt. Wenn jemand ein rotes Auto sieht, sagt er die Wahrheit, indem er erklärt, es sei rot. Aber viele Menschen sind farbenblind und sehen keinen Unterschied zwischen Rot und Grün. Wenn also ein Farbenblinder ein rotes Auto als grün bezeichnet, lügt er deshalb trotzdem nicht. Für ihn ist es die Wahrheit, dass Rot und Grün dasselbe sind – für jemand anderen nicht.
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