1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Verglichen mit vielen anderen europäischen Flughäfen war der Münchener Flughafen Franz-Josef Strauss , nicht nur sauber, sondern auch bautechnisch ein Meisterstück. Durch die großen Schilder und Wegweiser finden sogar Leute sich zurecht, die bis dahin kaum geflogen waren. Auch die zahlreichen Informationsstände an jeder Ecke brachte immense Hilfe für die Passagiere.
Eine besondere Spezialität stellten die vielfältigen Angebote an Last-Minute-Reisen zu TOP-Preisen und TOP-Konditionen. Hunderte von Schaltern diverser Reisebüros lagen dicht beieinander in den extra hierfür eingerichteten Gängen, die sich Reisemärkte nannten, und verkündeten ihre aktuellsten Reisesonderangebote auf bunten Kärtchen. An manchen Schaltern liefen auf riesigen Monitoren Videofilme von Hotelanlagen und zeigten zufriedene Urlauber am Pool, im Restaurant oder in der Bar.
Eine laute Frauenstimme hallte aus versteckten Lautsprechern. Der schnell und ohne Punkt und Komma heruntergeleierte Text forderte die Passagiere für den Flug TK 431 von München nach Adana auf, sich für den Check-In an den Schalter 24 im Bereich B zu begeben und ihre Flugtickets bereit zu halten. Dieselbe Ansage kam anschließend im mit deutschem Akzent gesprochenen Türkisch, so dass der Text kaum noch zu verstehen war.
Emin saß auf der Bank zwischen zwei älteren Paaren und las in seinem Buch Ethik in der Medizin , das genauso langweilig war wie das Buch Dialektischer Materialismus.
Der Mann mit dem gestutzten Vollbart, rechts von Emin, blickte auf ihn. „Was hat sie gesagt? Was hat sie gesagt?“, fragte er aufgeregt. Dabei drehte er seinen Kopf nach rechts und klappte zusätzlich die rechte Ohrmuschel mit der Hand wie eine Parabolantenne nach vorne, um Emins Stimme besser zu hören. Auch seine Frau mit einem einfachen weißen Kopftuch beugte sich nach vorne und hörte zu.
„Die Passagiere nach Adana sollen zu Schalter 24 kommen“, antwortete Emin mit einer kräftigen Stimme, damit der Alte ihn hört. Der Mann behielt aber seine Position bei und starrte ihn unbeirrt mit demselben fragenden Blick an.
„Er hört sehr schlecht, mein Sohn“, sagte die Frau. Von ihrer Oberlippe aus zogen tiefe Falten zur Nase hin, aus denen einige längere Haare wuchsen.
Emin näherte sich dem Mann und wiederholte die Information langsam und laut direkt ins Ohr. Am Ende fragte er den alten Mann, ob er alles verstanden hatte. Der Mann lächelte freundlich und nickte lebhaft mit dem Kopf. Emin erklärte ihm im selben langsamen Rhythmus und in derselben Lautstärke, dass auch er nach Adana flöge und, wenn sie wollten, er sie begleiten könnte. Der Mann harrte einige Sekunden in derselben Position, als würde er sich die Antwort überlegen und die Vor- bzw. Nachteile gegeneinander abwägen. Dann nahm er mit einer schnellen Bewegung Emins rechte Hand und schüttelte sie voller Enthusiasmus mehrmals. Er hatte ziemlich raue, warme Hände. „Gott segne dich mein Sohn! Gott segne dich mein Sohn!“, schrie er laut.
Die Leute drehten ihre Köpfe und schauten mit neugierigen Blicken hin, als fürchteten sie, eine außergewöhnliche Szene zu verpassen. Der Mann schüttelte unbeirrt Emins Hände weiter, bis die Frau ihm einen Klaps auf die Schulter gab und mit einem festen Griff am Unterarm ihn stoppte. „Das reicht Mann! Du brichst dem Herrn noch die Hände!“, sagte sie, woraufhin der Mann sich umdrehte und sie fragte, ob sie etwas gesagt hatte. Die Frau wedelte mit beiden Händen und machte ein Zeichen, dass er sich beruhigen solle. Sie wandte sich zu Emin. „Sprich lieber mit mir mein Sohn. Ansonsten hast du nach fünf Minuten selber keine Stimme mehr und brauchst dann einen Arzt. Und im Flugzeug ist sicherlich keiner.“
Emin lächelte, steckte sein Buch in die braune Aktentasche, stand auf und half dem alten Mann beim Aufstehen. Die Frau stand ebenfalls auf und nahm die drei vollgestopften Plastiktüten, die mit einer dicken Wäscheleine fest umschlungen waren, damit sie nicht aufplatzten. Sie stöhnte unter ihrem Gewicht.
Emin griff nach einer Tüte und wollte ihr helfen. „Gib her Teyze , lass dir helfen“, sagte er zu ihr.
„Danke mein Sohn, bemühe dich nicht. Sie sind eh´ nicht schwer.“
Emin hängte die Aktentasche mit dem Riemen um seine Schulter und nahm gleich zwei Taschen. Als seine Knie unter dem Gewicht beider Taschen kurz nachgaben, stellte er sich automatisch die Frage, was für die alte Frau das Wort nicht schwer wohl bedeutete. Danach ging ihm durch den Kopf, dass die beiden wohl Baumaterial in die Türkei transportierten. Er wunderte sich, wie die beiden diese schweren Taschen im Flugzeug als Handgepäck verstauen wollten.
Die Schlange vor dem Schalter 24 war ziemlich lang. Besonders schlaue Passagiere drängelten sich seitlich hinein. Emin musste die Taschen immer wieder absetzen, um sich zu erholen. Er konnte irgendwann seine Neugier nicht überwinden und fragte die Frau nach dem Inhalt der Taschen.
„Nur ein paar Kleinigkeiten“, antwortete sie.
„Was für Kleinigkeiten, Teyze ?“, wollte er genauer wissen, obwohl Neugier seiner Natur widersprach.
„Zwei Töpfe und zwei Bratpfannen. Etwas Waschmittel und Nutella.“
„Töpfe? Bratpfannen?“, wiederholte er völlig perplex und musste unwillkürlich grinsen. „Ihr nehmt sogar Waschmittel mit in die Türkei?“, fragte er dann. Er dachte zuerst, dass er sich verhört hätte.
„Weißt du, mein Sohn? Unsere Enkelin heiratet nächste Woche und sie kriegt die Töpfe und die Pfannen von uns als Hochzeitsgeschenk“, erklärte sie ganz stolz.
„Ahah, ich weiß nun Bescheid“, lachte er und fügte hinzu:
„Und das Waschmittel?“
„Es ist für unsere Nachbarin.“
„Für die Nachbarin“, wiederholte er. „Gibt es denn in der Türkei kein Waschmittel, so dass Ihr es mitnehmen müsst?“
„Doch, doch, mein Sohn. Dieses Waschmittel hat aber Qualität; mit einem Becher kannst du die Wäsche von dem ganzen Dorf waschen. Und es riecht noch dazu gut, wie frische Blumen.“
„Und das Nutella?“
„Das ist für unsere Enkelkinder, Nichten, Neffen und so weiter. Jedes Kind bekommt ein Glas.“
„Und wie viele Gläser sind es, Teyze ?“
„Sechsunddreißig!
Sie erreichten endlich den Schalter. Emin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er verbrauchte von der Sitzbank bis zum Schalter eine halbe Packung Taschentücher. Das Paar bekam Sitzplätze in der zwölften Reihe, einen am Fenster und einen in der Mitte. Die Dame am Schalter, eine Brünette mit lockigen Haaren, die nicht unbedingt wie eine Türkin aussah, fragte Emin, ob er zu den beiden gehörte. Er verneinte es und erklärte ihr, dass er ihnen nur beim Tragen der schweren Taschen geholfen habe. Daraufhin bekam er einen Fensterplatz mit einer hohen Zahl. Als er ins Flugzeug kam und seine Bordkarte einer stark geschminkten Stewardess zeigte, erfuhr er, dass sein Platz in der letzten Reihe links war. Das konnte ihm nur recht sein. Dass unter den Fluggästen ein paar Patienten von ihm am Board sein könnten, die ihm die ganze Zeit von ihren Erkrankungen erzählten, war nicht unwahrscheinlich. Er wollte mit niemandem reden, sondern nur ab und zu aus dem Fenster hinausschauen und schlafen.
Beim Abheben spürte er einen Druck in den Ohren und musste immer wieder gähnen und schlucken, woraufhin das unangenehme Gefühl in den Ohren kurzfristig nachließ. Er hatte wieder einmal die Kaugummis, die er extra für den Flug gekauft hatte, zuhause vergessen.
Nachdem die Maschine die vorgesehene Flughöhe erreicht hatte, gingen die Anschnallzeichen mit einem Klingelton aus. Eine Schar von Frauen rannte nach hinten zu den Toiletten, vor denen sich innerhalb weniger Augenblicke eine lange Schlange bildete.
Emin blieb angeschnallt. Der Nachbar, der seinen Bart an beiden Spitzen zu einem Zwirn gedreht hatte, schnarchte bereits. Er hatte nicht einmal seinen Cowboy-Hut abgesetzt. Dieser rutschte ihm nach nicht mal fünf Minuten langsam vom Kopf, fiel auf den Boden und rollte unter die vorderen Sitze. Emin schaute aus dem Fenster und erblickte bizarre Wolkenformationen, die einem Feld aus Baumwolle ähnelten. Ihm fiel seine Kindheit er, wie er jedes Jahr mit der Familie nach Adana zum Baumwollpflücken gefahren war. Sie fuhren mit anderen Familien auf einem überladenen Lastwagen, der bei jeder Unebenheit der Fahrbahn schwankte und zu Kippen drohte. Die Leute schrien dann angsterfüllt mit nach oben gerichteten Händen „Allah.“
Читать дальше