Emin blickte zuerst auf das Schild und dann auf den Tisch mit dem Aschenbecher, der von Zigarettenkippen überquoll. Zwei schmutzige Plastikstühle standen vor dem Tisch. Der relativ neue Ledersessel an der Wand sah jedoch recht bequem aus. Links neben der Tür fand sich eine Couch mit einem an vielen Stellen verschlissenen, löchrigen Bezug.
Der Polizist schob Emin höflich hinter den Tisch und bot ihm den bequemen Ledersessel an. Er setzte sich immer noch gespannt hin. Der Beamte ließ sich stöhnend ihm gegenüber auf einen der Plastikstühle nieder. „Danke, Herr Doktor, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben“, fing der Sicherheitsbeamte an.
„Ich mache es doch gerne“, log er und bombardierte sein Gegenüber innerlich kreuz und quer mit wüstesten Beschimpfungen, die er bis dahin noch nie benutzt hatte.
„Kann ich Ihnen einen Tee anbieten, Herr Doktor?“ Der Ton war immer noch höflich und zuvorkommend.
„Nein danke, das nächste Mal aber nehme ich es gerne an.“ Emin musste sich einige Male räuspern, damit seine Stimme einigermaßen freundlich klang. Er spürte regelrecht, wie das Blut durch die Halsgefäße rauschte.
„Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe seit vielen Jahren immer wieder hier“, dabei zeigte der Beamte auf die Mitte seines Oberbauches, „Schmerzen und weiß nicht, was ich machen soll. Glauben Sie, dass Sie mir helfen können?“
Emins Körper entspannte sich. Der Krampf seiner Nerven verschwand schlagartig. Die Erleichterung löste bei ihm ein zufriedenes Lächeln. Sein Gehirn setzte allerdings alle möglichen Schimpfwörter unvermindert fort.
„Sind die Schmerzen vor oder nach dem Essen schlimmer?“, fragte er.
„Ich kann kaum noch etwas essen, Herr Doktor, ich habe absolut keinen Appetit mehr“, antwortete der Polizist leidend und verzog dabei sein Gesicht, als könnte er jederzeit losheulen.
„Dafür ...“. Rechtzeitig zügelte er seine Zunge. Beinahe wäre aus seinem Mund der Satz „ Dafür bist du aber fett wie eine Sau “ herausgerutscht. Er räusperte sich und klärte seinen Hals. „Dafür...“, wiederholte er, „ich meine, für diese Schmerzen kommt meines Erachtens nur der Magen in Frage.“
„Der Magen? Aber ich habe mit dem Magen noch nie etwas zu tun gehabt“, antwortete der Polizist völlig überrascht, als hätte er eben etwas Unmögliches gehört.
„Das denken Sie. Alles, was Sie mir erzählen, weist auf eine Magenerkrankung hin. Legen Sie sich bitte aufs Bett und ich untersuche Sie.“ Emin stand auf. Er wollte diesen Quälgeist schnell untersuchen und dann noch schneller verschwinden.
Der Beamte benötigte nicht einmal eine Minute, um seinen Oberkörper zu entblößen. Als Emin in die Magengrube drückte, hielt der Beamte Emins Hand fest und schrie „Allah!“
„Sehen Sie? Das ist eben der Magen!“ Er bereute es, nicht mit seinem gesamten Gewicht in die Magengrube gedrückt zu haben, wie bei einer Reanimation.
„Und was mache ich jetzt?“, stöhnte der Beamte weiterhin.
Emin schrieb ihm auf ein Privatrezept, das er für Notfälle stets bei sich trug, ein Medikament zur Reduktion der Magensäureproduktion und riet ihm, das Rauchen nach Möglichkeit aufzugeben, auch wenn der Beamte die Auffassung vertrat, dass zwei Päckchen am Tag seines Erachtens kaum ins Gewicht fielen.
Er eilte zum Rollband für die Gepäckausgabe. Sein Koffer ruhte als einziges Gepäck auf dem mittlerweile abgestellten Transportband. Die Flughafenhalle war fast menschenleer. Er erblickte hinter der Glastür seinen Schwager Mahmut, den Mann seiner ältesten Schwester Hanife, der ungeduldig hin und her ging und nervös alle paar Sekunden einen Blick auf die Armbanduhr warf.
Mahmut, knapp 1.90 und über 100 kg ein ziemlich kräftiger Mann mit einem eckigen Gesicht, stand vor dem Ausgang und war zunehmend davon überzeugt, seinen Schwager Emin verpasst zu haben. Die Anzeige auf der Ankunftstafel war schon längst erloschen.
Als Mahmut ihn doch noch am Gepäckband sah, lächelte er zufrieden, so dass sich sein mächtiges Kinn abflachte. Er näherte sich unter heftigem Winken der elektronischen Glastür, die automatisch aufging. Er blieb unterhalb des Sensors stehen. Die Glastür ging immer wieder auf und zu.
Emin rollte seinen Koffer hinaus, stellte ihn ab und umarmte seinen Schwager. Er staunte über die Kraft in den Armen, die ihn umklammerten. Mahmut war trotz seines Alters mit 72 Jahren nach wie vor stark wie ein Bär. In seinen jungen Jahren nahm er als Profiboxer an vielen nationalen und internationalen Meisterschaften teil. Mahmut packte Emins Koffer mühelos wie eine leere Schuhschachtel und legte ihn in den Kofferraum des silberfarbenen Toyota, der schräg auf dem riesigen Parkplatz stand. Dann hielt er ihm die Beifahrertür auf.
„Und, geht es euch allen gut?“, begann Emin, sobald der Wagen den Parkplatz verlassen hatte.
„Ja, uns allen geht es gut. Und du kommst rechtzeitig zur Beerdigung“, antwortete Mahmut.
„Beerdigung? Wessen Beerdigung?“, fragte Emin erstaunt.
„Deine Tante Müzeyyen ist vor ein paar Stunden gestorben.“
Emin fiel unwillkürlich der Traum im Flugzeug ein. Ihm wurde übel. Ein flaues Gefühl breitete sich aus der Mitte des Oberbauches in beide Richtungen. Hatte der Tod seiner Tante mit dem Traum im Flugzeug zu tun? War das eine Art Telekinese?
Mahmut fuhr auf der neuen Autobahn von Adana nach Iskenderun recht schnell, als wollte er aus dem silberfarbenen Toyota alles herausholen. Er hatte das Fernlicht eingeschaltet und blinkte andauernd, um Autos zu verjagen, die vor ihm auf derselben Spur zu fahren wagten. Wenn es ihm nicht schnell genug ging, überholte er, ohne zu zögern, rechts.
Emin presste sich auf den Beifahrersitz und hielt verkrampft den Griff an der Tür fest, von dem die untere Hälfte fehlte. Er kam sich vor wie der Beifahrer in einem Rennwagen. Er schloss immer wieder die Augen. Im Gegensatz hierzu saß Mahmut entspannt am Steuer und war guter Laune. Er begleitete ein Gesang aus dem Radio über die Sehnsucht nach der wahren Liebe mit einer tiefen Stimme, die alles andere war, als schön. Umso falsch singen zu können und keinen einzigen Ton richtig zu treffen, musste man tatsächlich ein Genie sein.
Emins Herz klopfte wie verrückt aufgrund der riskanten Fahrweise seines Schwagers und die Ohren schmerzten aufgrund seiner Singkünste. Seine Bemühungen, ihn mit Fragen zu einem Gespräch zu bewegen, damit er endlich aufhörte zu singen, scheiterten an Mahmuts leidenschaftlicher Singgewohnheit. Er erinnerte sich an ein Asterix-Heft, in dem Trubadix von den Römern entführt wurde. Auf dem Schiff ruderten die Sklaven erschöpft und lustlos, so dass die Galeere nur langsam vorwärtskam. Da erklärte sich Trubadix bereit, mit einem Gesang die Ruderer zu motivieren. Trubadix sang jedoch so grauenvoll, dass die Sklaven schrien: „Erbarmen! Auch die Sklaven haben Rechte! Wir werden uns bei der Menschenrechtskommission beschweren!“
Nach einer Fahrt von knapp zwei Stunden erreichten sie Iskenderun, die Stadt, in der Emin aufwuchs, mit seinem bogenförmigen Kai. Die blaue Farbe des Mittelmeers wirkte entspannend. Weiße ovale Strukturen glitzerten unter der strahlenden Sonne, als würden Fische der Reihe nach hochspringen, um danach gleich wieder im Wasser zu verschwinden. Einige Handelsschiffe und ein graues Marineschiff mit vielen sich drehenden Radarantennen lagen ruhig im Meer.
Auf der linken Seite erstreckte sich wie ein Schutzschild das Amanosgebirge, ein Arm des Taurusgebirges. Es hatte im mittleren Bereich einen massiven Spalt, durch den orkanartige Stürme tobten und das Stadtleben immer wieder lahmlegten. Diese Winde bezeichneten die Einheimischen als Yarikkaya firtinasi , der Sturm des gespaltenen Felsen.
Emins Herz klopfte schneller. Ihn überkam ein Gefühl der Sehnsucht nach der Stadt, in der er viele Jahre verbracht hatte. Gute und schlechte Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf und er musste immer wieder feststellen, dass er diese Stadt liebte.
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