„Gott, du hast mich erschreckt“, antwortete Aysel sauer. „Was ist was?“
Emin stand auf und kam näher. Er betrachtete genauer den Bauch und streichelte den rechten Rippenbogen.
„Was ist denn los, Onkel?“, fragte Aysel ungeduldig.
Auch Mahmut stand auf und kam an das Sofa. Hanife stand dicht hinter Emin.
„Seht Ihr diese feine Linie nicht?“, fragte er und versuchte das Baby seitlich zu bewegen, damit das durch das Fenster hinein brechende Licht den Bauch schräg traf. Er fuhr mit dem rechten Zeigefinger eine Linie am Rippenbogen bis in die rechte Flanke. „Jetzt!“, sagte er. „Jetzt kann man die Linie besser sehen. Siehst du es Mahmut?“
„Ja, ja, es stimmt, ich sehe sie“, bestätigte er erstaunt und runzelte die Stirn.
„Ich jetzt auch“, antwortete Hanife. Sie legte ihren Arm auf Mahmuts Oberkörper schutzsuchend, als stünde sie vor einem Angreifer, der nach ihrem Leben trachtete. Mahmut spürte ihre Angst und zog sie näher zu sich.
Auch Aysel sah die feine im Lichtstrahl leicht glänzende Linie. „Was ist denn das, Onkel?“ fragte sie und legte anschließend voller Angst die Hand auf den Mund. „Oh, Gott“, schrie sie und fing an zu weinen. Sie konnte sich nicht beherrschen. Sie heulte regelrecht und wiederholte unentwegt die Frage, ob es Krebs sei.
Hanife war kurz davor, dasselbe zu tun, bekam jedoch ihre Gefühle gerade noch in Griff. Mahmut sagte nichts. Er betrachtete den Mund seines Schwagers mit einer besorgten Miene, als würde er jeden Augenblick mit einer Hiobsbotschaft konfrontiert werden.
Emin bemühte sich um eine wohlklingende Stimme. Er erklärte ihnen, dass er selbst nicht wisse, was diese Linie bedeutete und dass er während seines gesamten Berufslebens noch nie eine solche Veränderung gesehen hätte.
„Jetzt beruhigt euch erst mal und setzt euch hin. Besonders du Aysel, ich möchte von dir keinen einzigen Ton mehr hören. Gemeinsam können wir vielleicht herauskriegen, was dahinterstecken könnte. Dafür müssen wir aber alle vorerst die Nerven behalten. O. K.?“ Er sprach mit einer entschiedenen und keine Widerrede duldenden Stimme.
Aysel nickte mehrmals mit dem Kopf. Sie putzte ihre Nase und wischte die Tränen mit einem Stofftuch ab.
„Krebs oder irgendeine schlimme Erkrankung ist es mit Sicherheit nicht!“, begann er. „Darauf kann ich sogar meinen Kopf verwetten. Dem Schein nach würde ich sagen, dass es einer präzisen Operationsnarbe ähnelt. Daher muss ich dir, liebe Aysel, einige Fragen stellen.“
Aysel erschrak, als hätte sie eben einen Geist gesehen, als sie das Wort Operation gehört hatte.
„Hast du den kleinen Ali sofort nach der Geburt zu sehen bekommen?“
Aysel schüttelte den Kopf und flüsterte ein leises „Nein“. Ihre Stimme klang rau und schwach.
„War es eine normale Geburt oder hast du per Kaiserschnitt entbunden?“, fuhr er dann fort, wie ein Richter, der den Angeklagten verhörte.
„Kaiserschnitt.“ Sie brachte nicht mehr als ein einziges Wort heraus. Ein Schüttelfrost breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Sie atmete mehrmals tief ein und aus, so dass sich ihr Brustkorb extrem hob und senkte.
„O. K. Wann hast du dein Kind zum ersten Mal gesehen?“
„Ich glaube gleich am nächsten Tag. Ich bekam es aber nie auf den Arm. Ich musste es stets durch das Fenster anschauen.“
„Heißt es, dass du dein Kind eine Zeitlang nicht nackt gesehen hast?“
„Ja, es war stets angezogen.“
„Und wie lange ging es so?“
Aysel erklärte, dass sie etwa zwei Wochen lang ihr Kind nicht auf den Armen haben durfte, da es laut Ärzte aufgrund einer ausgeprägten Gelbsucht intensiv behandelt werden musste. Emin hielt einige Sekunden inne und massierte seine Schläfen.
Der Kampf der Hunde um den Knochen nahm an Lautstärke zu. Anscheinend gesellten sich neue Hunde dazu.
„Es gibt tatsächlich eine schwere Gelbsucht bei einer Blutunverträglichkeit“, begann er und massierte seine Schläfen weiter. „Und zwar zwischen dem Kind und der Mutter. Das ist eine schwere Erkrankung. Das kommt allerdings erst ab dem zweiten Kind in Frage und nicht bereits bei dem ersten Kind. Hierzu muss die Mutter das Blutgruppenmerkmal Rhesus negativ, der Vater und das Kind jedoch positiv sein. Da muss ich natürlich dich ebenfalls darüber informieren, dass auch eine Abtreibung, genauso wie die Geburt des ersten Kindes zu einer Sensibilisierung im mütterlichen Blut führen kann.“
„Das ist ausgeschlossen, da ich weiß, dass sowohl mein Mann Nurettin, als auch ich Rhesus positiv sind. Zudem ist Emin unser erstes Kind. Ich habe auch keine Abtreibung oder Abort oder was Anderes gehabt“, klärte Aysel ihn auf.
„Das habe ich mir gedacht. Denn in diesem Falle wäre das Kind stark beschädigt geboren und nicht nur mit einer einfachen Gelbsucht. Die zweite Möglichkeit“ sagte er langsam, „wäre die Gelbsucht, die man bei über 70% der Kinder, meistens zwischen dem 2. und 3. Tag, sieht.“
„Und ist es sehr schlimm?“, mischte sich Mahmut ein, der bis dahin wortlos auf dem Sessel saß und den Boden betrachtete.
„Nein! Nun...“, sprach er diesmal nachdenklich, als würde er nach der richtigen Frage suchen, deren Antwort alle Unklarheiten beseitigen musste. „Diese Gelbsucht bei den Neugeborenen wird mit Blaulicht behandelt. Im medizinischen Fachjargon sagen wir hierzu Phototherapie . Allerdings scheint mir eine Zeit von zwei Wochen ziemlich lang. Eine Behandlung dauert maximal eine Woche.“
„Gibt es eine dritte Möglichkeit?“, unterbrach ihn Mahmut.
„Ja, sicher. Und das wäre auch die Überlegung, die mir am plausibelsten erscheint.“
„Wir hören“, sagten alle drei im selben Moment, als hätten sie sich vorher abgesprochen und nur auf diesen Moment gewartet.
„Beim Kaiserschnitt hat man, d. h. der Frauenarzt, den Kleinen mit dem Skalpell verletzt.“
„Was?“ Schrie Aysel.
„Ich werde den Frauenarzt sofort verklagen“, brüllte Mahmut verärgert und stand sofort auf.
„Mein armer Emin-Ali“, schluchzte Hanife leise.
„Immer mit der Ruhe.“ Emin versuchte sie zu besänftigen. „Ich bin noch nicht fertig. Es gibt manche Punkte, die noch abgeklärt werden müssen“
„Abgeklärt werden?“, fragte Mahmut diesmal noch lauter und empörter. Er kam näher und blickte ihm ins Gesicht, als bereitete er sich auf einen Kampf.
„Ja, und zwar…“, sagte Emin, bekam allerdings nicht die Gelegenheit weiterzusprechen.
„Für mich ist es eindeutig“, unterbrach ihn Mahmut und prompt hatte er bereits den Hörer in der Hand. „Ich rufe gleich den Anwalt Cemil an.“
„Warte, warte!“ Emin hielt seine Hand fest. „Lass uns doch erst alles besprechen und dann gemeinsam entscheiden, wie wir vorgehen.“
„Nur vergeudete Zeit“, schimpfte Mahmut.
„Lass ihn doch aussprechen, Mann!“, fuhr Hanife ihn an. Ihre Augen funkelten boshaft.
Mahmut brummte wie ein Bär etwas Unverständliches und senkte seine Blicke wieder auf den Boden.
„Es kommt leider immer wieder vor, dass das Baby bei einem Kaiserschnitt mit dem Skalpell verletzt wird. Das sind allerdings wirklich kleine Schnitte, die auf der Stelle versorgt werden. Um eine solch lange Narbe zu verursachen, muss der Chirurg, besser gesagt, der Frauenarzt, unter massivem Alkoholeinfluss gestanden sein.“
„Doktor Serafettin trinkt nie“, protestierte Hanife und Aysel bestätigte es mit einem „stimmt genau“.
„Andererseits sieht die Narbe von Emin nicht nur perfekt, sondern auch sehr alt aus.“ Emin sprach die letzten beiden Wörter mit einer nachdenklichen Betonung und in einer für ihn ungewöhnlichen Tonlage aus, als würde er einen Lehrer imitieren.
„Der Kleine ist doch erst nicht einmal zwei Monate alt“, beanstandete Aysel.
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