Als Emin ins Labor kam, sah er, dass Tayfun nach vorne gebeugt auf der Liege saß. Seine zusammengefalteten Hände ruhten auf dem Oberbauch. Er hatte eine ungesunde, kreidebleiche Gesichtsfarbe und schwitzte.
„Mir ist so übel. Ich glaube, ich muss wieder kotzen. Aber diese Schmerzen. Ich sterbe“, klagte er zusammengekrümmt.
„Du hast Gallenkoliken, mein Lieber. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, musst du doch operiert werden“, erläuterte Emin.
„Du hast leicht reden. Gib mir bitte irgendwas, damit diese Schmerzen weg sind. Beeil dich bitte. Ich bin jetzt schon tot“, stöhnte Tayfun weiter.
„Du kriegst von mir ein starkes Schmerzmittel über eine Infusion. Es wirkt dann viel schneller und danach schicke ich dich ins Krankenhaus.“
„Die Schmerzen nehmen jetzt wieder zu. Beeil dich bitte. Schnell.“
Emin legte ihm eine Infusionsnadel über dem Handrücken an, befestigte sie mit einem Pflaster und schloss den Infusionsschlauch an. Er spritzte ein Schmerzmittel in die Plastikflasche und ließ die Infusion etwas schneller laufen. Von Minute zu Minute fühlte sich Tayfun wohler. Er sah nicht mehr blass aus und bekam langsam die normale Gesichtsfarbe.
Nachdem die Infusion durchgelaufen war und Tayfun keine Schmerzen mehr hatte, setzte sich Emin ihm gegenüber und erklärte erneut, dass die beste Therapie für Gallensteine die Operation sei und dass er ihn deswegen ins Krankenhaus einweisen müsse.
„In welche Klinik schickst du mich?“, wollte Tayfun wissen.
„Ich kann dich in jede Klinik in München schicken. An Kliniken mangelt es in München, Gott sein Dank, nicht. Das ist das kleinste Problem“, erklärte er.
„Du hast mir das letzte Mal von einer Operationsmethode erzählt mit 2-3 kleinen Schnitten.“
„Das stimmt“, bestätigte er. „Wir reden von der MIC , und das bedeutet Minimalinvasive Chirurgie .“
Dabei betonte er jeweils den ersten Buchstaben zur Erläuterung, wie sich der Name MIC zusammensetzte. Tayfun informierte sich über die Kliniken, die nach dieser Methode operierten und entschied sich dann für das Klinikum München Mitte am Isartorplatz, da es nicht nur relativ nah zu seinem Wohnort lag, sondern auch ziemlich modern aussah.
Zwei Trambahnen derselben Linie fuhren dicht hintereinander. Sicherlich gab es wieder einmal Verspätungen. Ihre Räder quietschten lauter als üblich, als hätte man auf die Gleise Sand gestreut. Die Trambahnfahrer klingelten in einem bestimmten Rhythmus, als begleiteten sie eine Melodie auf einer Festveranstaltung.
Normalerweise störte dieses Gequietsche und Gebimmel Emin immens. Er bekam oft Wutausbrüche. Aber nun, nachdem er die Arbeit dieses schrecklichen Montags erledigt hatte, ließ er von nichts stören. Er schloss die Augen und schlürfte langsam seinen Kaffee, als würde er eben in einem noblen Lokal einen guten Rotwein kosten.
München, August 2002
Emin drückte auf den Einschaltknopf der Kaffeemaschine und ging ins Bad. Er rasierte seinen Zwei-Tage-Bart gründlich und sprang unter die Dusche. Er ließ das warme Wasser über seinen Körper rinnen. Er massierte seine Haare mit einem Fühl-Dich-Fit-Shampoo und wusch es dann ausgiebig aus. Er fühlte eine belebende Frische an der Kopfhaut. Er summte ein fröhliches Lied, dessen Namen er nicht kannte und betrat die Küche. Als er einen Becher unter die Kaffeedüse schob, fiel ihm die Schrift auf dem Display auf: Kaffeebohnen nachfüllen .
Er öffnete den Schrank, in dem sich die Dose mit den Kaffeebohnen befand. Die Überraschung war perfekt. In der Dose befand sich nur eine einzige Bohne. „ Toll “, dachte er. Er suchte alle Schränke vergeblich. Kein Kaffee. Für ihn war der Tag somit gelaufen.
Völlig missgelaunt, fuhr er in die Praxis. Alleine an der Art, wie er seine Helferinnen grüßte, wussten sie, dass eine Laus besonderer Art ihm über die Leber gelaufen war. Sie wagten nicht, ihn zu kontaktieren. Seine üble Laune verschwand bereits mit dem ersten Schluck, als würde er keinen Kaffee, sondern einen Zaubertrunk zu sich nehmen. Er verglich die Symptome, die sein Körper bei fehlendem Kaffee entwickelte, mit einer Erkrankung und das Getränk mit einer medikamentösen Therapie. Sein Gehirn sagte ihm, dass er inzwischen koffeinabhängig ist. „Und?“ , sagte er zu sich. „Solange ich nicht von anderen Drogen abhängig werde, nehme ich diese Last gerne auf mich.“
Als er an der Rezeption anrief und seine Helferin bat, den ersten Patienten ins Sprechzimmer eins zu setzen, klang er freundlich und völlig entspannt. Der erste Patient, ein korpulenter Mann um die fünfzig, klagte über seit einigen Monaten bestehenden Husten. Er habe von verschiedenen Ärzten Hustentabletten, Tropfen, Sprays und auch ein Antibiotikum erhalten; allerdings ohne jede Besserung. Emin hörte mit seinem Stethoskop die Lunge von allen Seiten ab, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Er dachte an eine Erkrankung, die in den tieferen Lungenabschnitten sitzen müsste und sich somit der Untersuchung mit dem Stethoskop entzog.
Die Frage nach der letzten Röntgenaufnahme der Lunge verneinte der Patient vehement. Daher bekam er einen Überweisungsschein in die Röntgenabteilung in der Nachbarschaft. Er informierte ihn, sobald wie möglich mit den Aufnahmen wieder zurückzukommen.
In dem Moment, in dem er die Tür ins nächste Sprechzimmer öffnete, hörte er draußen ein Geschrei, als würden sich mehrere Leute streiten. Er grüßte zuerst die junge, modern angezogene Mutter, die auf dem Sessel saß und dem Lärm draußen lauschte. Ein Junge und ein Mädchen, beide etwa zehn Jahre alt, saßen auf der Liege und kicherten. Emin ging zu ihnen, grüßte sie ebenso freundlich und setzte sich zu ihnen. Nach einer kurzen Unterhaltung mit den Kindern griff er nach dem Hörer, um seine Helferinnen nach dem Grund des Lärmes zu fragen. Bevor er die zwei Ziffern auf dem Telefon eintippen konnte, wurde die Tür aufgerissen und die Arzthelferin Necla Nareli stürmte herein. Ihre Augen stachen noch mehr hervor und ihr Gesicht war rot.
„Herr Tayfun Tatlidil wurde aus dem Krankenhaus entlassen“, rief sie verärgert.
„Und? Das ist doch kein Grund zum Schreien!“, erwiderte Emin erleichtert.
„Er will dich anzeigen“, antwortete Necla, immer noch aufgeregt.
„Mich anzeigen? Weswegen denn?“ Hinter Emins überraschtem Gesichtsausdruck steckte ein eigenartiges Lächeln, als wollte er zu seiner Helferin sagen, „es ist doch nicht die Zeit für einen Aprilscherz.“
„Du hättest ihn falsch beraten.“
„Falsch beraten? Wobei denn?“
„Bei der Gallenoperation.“
Emin kratzte sich am Kinn. „Merkwürdig... O. K. Ich kümmere mich darum. Sag´ ihm bitte, er möchte kurz Platz nehmen. Ich bin gleich bei ihm.“
Nachdem er die Mutter und ihre beiden Kinder untersucht und behandelt hatte, ging er in das Zimmer, in dem Tayfun Tatlidil ungeduldig auf und ab ging.
„So, wo drückt denn der Schuh, Bruder Tayfun?“, fragte er freundlich und streckte seine rechte Hand ihm entgegen. Tayfuns grimmige Blicke wirkten gespenstisch. Er nahm die ihm gebotene Hand nicht. Trotzdem blieb Emin cool und bewahrte seine Höflichkeit. „Willst du mir nicht sagen, was los ist?“, fragte er erneut.
„Ich habe dich gebeten, mich in eine Klinik zu schicken, in der ich nur einen winzigen Schnitt bekomme und keinen meterlangen.“ Tayfuns Stimme brodelte vor Wut, so dass beim Sprechen kleine Töpfchen herumspritzten. Seine Lippen müssten wohl dermaßen trocken sein, dass er sie mit der Zunge immer wieder befeuchtete.
„Ich habe dich, und das kannst du mir glauben, in die beste Klinik Münchens geschickt“, erwiderte Emin. Seine Augen bestanden aus zwei schmalen Streifen, als studierten sie ein ziemlich komplexes Rätsel.
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