Wieder die übliche Begrüßungszeremonie, wieder dieselben obligatorischen Fragen nach dem Befinden und nach der Gesundheit, wieder das kräftige Händeschütteln und wieder die schmatzenden Küsse.
Gerade diese Küsse hasste der kleine Bub Ali. Dieses feuchte Gefühl an der Wange fand er ekelhaft. Nach jedem Kuss wischte er die Stelle demonstrativ mehrmals, um seine Abneigung zu zeigen. Seine Oma Hanife ärgerte ihn jedoch immer wieder, indem sie ihm noch einen Kuss gab. Einmal hatte er die Nase dermaßen voll, dass es ihm sogar gelang, eine ordentliche Portion auf das kürzlich erstandene Sofa zu brechen. Das rettete ihn dann für immer vor seiner Oma.
Hanife servierte allen Erwachsenen zur Begrüßung einen türkischen Mokka in kleinen Porzellantässchen. Ali bekam natürlich wie immer ebenfalls im gleichen Tässchen Kakao. Nachdem Emin seinen Kaffee ausgetrunken hatte, bat Hanife ihn, seine Tasse mit der Untertasse zu bedecken, dreimal von rechts nach links und von vorne zum Körper hin zu schwenken und sie dann umzudrehen. Beim Erklären führte Hanife die Bewegung selber vor, damit nichts schief gehen konnte.
Er wusste, was auf ihn zukam; nämlich eine Prophezeiung der Zukunft aus dem Kaffeesatz. Er glaubte an solchen Humbug nicht und bezeichnete es als Altweibergequatsche . Er ärgerte sich über seine Schwester, dass sie es immer wieder versuchte und, was noch schlimmer war, sogar daran glaubte. Mit Missmut und völlig ohne Elan schwenkte er, wie ihm vorgeführt wurde, die Tasse drei Mal und kippte sie dann um. Dabei verdrehte er seine Augen, als würde er den Beleidigten spielen, dem man etwas Unrechtes angetan hatte.
Hanife entfernte die Untertasse und betrachtete eine Zeitlang die Spuren des Kaffeesatzes. Ihre Gesichtszüge erstarrten plötzlich, als wäre sie von einem bösen Geist überrascht. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen vertiefte sich. Die Pupillen waren nichts Anderes als zwei winzig kleine Punkte.
Aufgrund dieses ungewöhnlichen Gesichtsausdruckes seiner Schwester begann Emin zu lachen. „Na, siehst du wieder neue Weiber, die vor meiner Tür Schlange stehen und nimm mich, nimm mich schreien?“, fragte er ironisch und schaute dabei seine Nichte Aysel an. Mit dem rechten Auge blinzelte er, um diesen Humbug in eine lächerliche Schiene zu leiten.
„Hör auf mit deinen dummen Kommentaren“, erwiderte Hanife in einem harschen Ton. „Wann wirst du überhaupt erwachsen. Wir reden hier nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft. Also, schweig und hör einfach zu!“
Da sie älter als er war, konnte sie sich solche Worte und so einen Ton leisten. Denn sie wusste, dass er Achtung vor ihr hatte.
„Was ist denn los?“, fragte Emin, diesmal ernst.
„Ich sehe etwas Beunruhigendes.“
„Willst Du es uns nicht erzählen, was du siehst? Oder willst du uns auf die Folter spannen?“, mischte sich ihr Mann Mahmut ein.
„Ja, genau. Ich möchte es auch erfahren“, bemerkte Nurettin, der Schwiegersohn.
„Ich auch… Ich auch…“, jubelte Ali und hüpfte auf dem Sessel.
„Vor dir sehe ich eine Reise“, begann Hanife.
„Na, klar“, unterbrach er sie. „Ich fliege doch bald nach Deutschland zurück.“
„Du bekommst eine gute Nachricht, über die du dich sehr freuen wirst. Und erst nach dieser guten Nachricht, trittst du die Reise an.“
„Schön! Kannst du mir bitte verraten, wohin die Reise geht?“
„Halt endlich den Mund und hör zu, du eingebildeter Alman Doktoru !“, befahl sie und schickte ihm eiskalte Blicke zu. „Ich sehe dann schlechte Nachrichten. Feuer. Ja, Feuer. Große, lodernde Flammen. Und danach Ärger. Sehr viel Ärger.“
Alle im Raum erstarrten und neigten die Köpfe auf den Boden. Auch Emin tat das gleiche. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Das, was seine Schwester erzählte, glich reinem Unsinn. Er wurde unsicher. Was nun, wenn sie Recht hatte? Könnte doch noch etwas Reelles dahinterstecken? Glauben oder nicht glauben? Das war eben die eigentliche Frage. Plötzlich schossen ihm unzählige Fragen durch den Kopf. Was sollte er nun tun? Könnte ihm irgendjemand helfen? Wie hoch war der Wahrheitsgehalt dieser Prophezeiung? Der Kaffeesatz und die Zukunft… Bei gewissen Sternkonstellationen gab es bestimmte Ereignisse. Das konnte er sich noch einigermaßen zusammenreimen. Denn die Sterne übten auf die Lebewesen immerhin einen gewissen Einfluss. Aber der Kaffeesatz? Was für einen Einfluss könnte der Kaffeesatz überhaupt auf die Menschen ausüben?
Er merkte, dass eine Schmerzattacke vom Nacken über den Hinterkopf einsetzte und in die Schläfen wanderte. Er massierte sie mit beiden Händen und hoffte, die Schmerzen doch noch in Griff zu bekommen, bevor sie ihr Maximum erreichten.
Das laute Knattern eines Mopeds draußen störte die Stille in der Wohnung.
„Nun haben wir den Salat“, schimpfte Mahmut in Richtung seiner Frau.
„Was habe ich denn getan?“, antwortete sie leise. Ihre Stimme war voller Reue und Gewissensbisse.
„Was du getan hast? Du hast uns den Tag verdorben. Wie oft habe ich dir gesagt, dass du mit diesem Blödsinn aufhören sollst!“
„Ich habe nicht gedacht, dass es so schlimm wird“, verteidigte sie sich kleinlaut.
„Wie willst es nun wiedergutmachen?“
„Macht euch doch keine Gedanken“, entgegnete Emin, als wäre er eben aus dem Schlaf aufgewacht. „An so etwas glaube ich ohnehin nicht.“
Man soll frühstücken wie ein König, Mittag essen wie ein Bauer und Abend essen wie ein Bettler. Diese Weisheit oder ähnliche Formulierungen benutzten fast alle Völker schon seit eh und jäh. Wie viel Prozent der Industrienationen hielten sich aber daran, obwohl sie bestens über diese Weisheit informiert waren. Ist es nicht in den meisten Fällen sogar genau umgekehrt? Die Leute frühstückten kaum, stopften dafür am Abend wie ein gieriger Wolf alles Schwerverdauliche in den Mund.
Hanifes Abendtisch mit vielen liebevoll zubereiteten Speisen missachtete diese international anerkannte Weisheit radikal. Ob Bohnensuppe, Lahmacun, mit Hackfleisch belegtes Pizza-Brot, mit Reis und Hackfleisch gefüllte Auberginen, gegrillte Lammfleischbällchen…
Betrachtete man die Vielfalt und vor allem die Menge der Speisen, die den Tisch zierten, müsste man sofort an den Empfang eines hohen Staatsmannes in einem Schloss denken. Am Tisch, an dem Emin mit seinen Verwandten saß, fehlten nur noch die uniformierten Bediensteten. Er betrachtete all die Speisen und fühlte einen Druck in der Magengegend. Er war bereits vom Hinsehen satt. Womit sollte er anfangen? Vielleicht mit der Bohnensuppe? Oder Lahmacun? Oder Auberginen?
Seine Schwester nahm ihm die Entscheidung ab. Sie legte zwei Stück Lahmacun auf seinen Teller, träufelte darauf Zitronensaft und rollte sie dann mit reichlich frischer Petersilie zusammen und drückte es ihm in die Hand. „Ich wünsche euch allen einen guten Appetit“, sagte sie.
So gierig, wie sie nach den verschiedenen Speisen zugriffen, und mit welcher Geschwindigkeit sie die Bissen in den Magen förderten, hätte Hanifes Wunsch anders lauten müssen; wie zum Beispiel: „ Auf die Plätze, fertig, los! “, oder „ greift zu! “, oder „ zeigt, was ihr könnt! “
Einem allgemeinen Guten-Appetit-Gemurmel folgten Klappern des Bestecks und das laute Schmatzen. Gabeln, Messer, Löffel, sich im Akkord bewegende Arme… es sah regelrecht wie eine Kriegsszene aus. Ein Krieg, bei dem es nur darum ging, in kürzester Zeit möglichst viele Speisen zu erobern und in den Magen zu befördern. Den Gewinner erwartete eine Überraschung: Bauchschmerzen und eine schreckliche Nacht.
„Ich will Baklava mit Eis“, schrie der kleine Ali, einem plötzlichen Einfall folgend.
„Jetzt nicht“, bekam er von seiner Mutter Aysel zu hören.
Читать дальше