„So, wie ich dich kenne, willst du sicherlich noch einen Tee“, sagte Hanife zu ihrem Mann Mahmut, der mit dem leeren Glas saß.
Der Tee aus dem Samowar schmeckte intensiv und erfrischend.
„Nur einen? Seit wann bist denn du so geizig?“, moserte Mahmut und spielte den Beleidigten. Er mochte einst ein guter Boxer gewesen sein. Dafür war er ein schlechter Schauspieler. Mahmut ließ bei seinem Bekannten, der eine Konditorei hatte, für Emin eine Spezialität der Gegend backen. Nämlich Künefe .
Bei Künefe handelt es sich um mehrere Schichten von besonders feinen Nudeln, die mit einem Spezialkäse, eine Art Mozeralla, im Ofen gebacken und danach mit Zuckersirup übergossen werden.
Emin konnte sich bei Künefe nicht satt essen und verlor stets die Beherrschung. Dass er innerhalb von wenigen Tagen Einiges an Gewicht zulegen würde, war ihm bewusst. Das störte ihn jedoch nicht, da er in Deutschland durch den Alltagsstress die überflüssigen Pfunde innerhalb von zwei drei Wochen abarbeiten würde.
„Wollen wir morgen meine Tochter Aysel besuchen?“, fragte Hanife, nachdem sie einen Schluck Tee schlürfend trank. „Sie würde sich über deinen Besuch sehr freuen!“
„Natürlich besuchen wir sie“, antwortete er mit vollem Mund und sprach weiter. „Wo wohnt sie jetzt eigentlich? Ich habe gehört, dass sie umgezogen ist.“
„In Antakya. Ihr Mann wurde als Schuldirektor nach Harbiye versetzt.“
Emins Kommentar kam nicht sofort, da sein Mund noch voll war. Nachdem er heruntergeschluckt hatte, sagte er, dass er diese Versetzung für gut hielt.
„Ja, ihr Mann verdient jetzt wesentlich mehr und sie haben eine größere Wohnung“, sagte die Schwester und richtete ihre Blicke auf den Boden, was Emin nicht entging.
„Du klingst aber nicht begeistert. Was bedrückt dich denn, Schwesterherz?“, fragte er.
„Ja, da hast du völlig recht. Ich vermisse meinen Enkelsohn“, klagte sie wehmütig. Sie stellte ihr Teeglas auf die Untertasse und schaute ihren Mann an, als würde sie von ihm unterstützende Worte erwarten.
Mahmut tat aber so, als hätte er nichts gehört und füllte sein Glas erneut mit Tee. Er tat in das kleine Glas zwei Löffel Zucker und verrührte ihn.
„Auch ich bin neugierig auf meinen Namensvetter. Er ist sicherlich ein prächtiger Kerl geworden“, bemerkte Emin.
„Er ist ein Prachtbursche. Und so intelligent. Er stellt Fragen, die ich oft selber nicht beantworten kann. Er wird mit Sicherheit Professor“, erzählte sie stolz.
„Bei diesen Eltern ist es doch kein Wunder“, entgegnete Emin.
Hanife beschloss, ihre Tochter gleich anzurufen und ihren Besuch für den nächsten Tag 11 Uhr anzukündigen. Beide Männer erklärten ihr Einverständnis.
Emin kannte inzwischen die Fahrweise seines Schwagers Mahmut. Daher setzte er sich sofort auf den hinteren Sitz und ließ sich weder von ihm noch von seiner Schwester Hanife überreden, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Die Erinnerungen an die Fahrt von Adana nach Iskenderun konnte er nicht so schnell verdrängen. Sie werden sicherlich noch einige Jahre in seinem Gedächtniszentrum wie ein frisches Erlebnis existieren. So saß er hinten und genoss, diesmal relativ entspannt, die Fahrt nach Antakya. Zum Glück sang Mahmut nicht. Dafür erzählte seine Schwester ununterbrochen und er brauchte nur ab und zu ein „ja“ oder „mmm“ zu sagen.
Sie fuhren über die Atatürk Caddesi am Kreisverkehr mit der Atatürk-Statue und dann am Archäologischen Museum vorbei, das zu den größten Mosaik-Museen der Welt zählte. Auf der linken Seite breitete sich der Stadtpark aus, in dem sich Einheimische gerne aufhielten. Für einen gemütlichen Spaziergang bat er schön angelegte Wege.
Aysel stand schon vor der Tür, an der Hand ihr Sohn, der kleine Emin-Ali, und wartete auf den Besuch aus Iskenderun. Ihre Augen strahlten voller Freude, als sie den silberfarbenen Toyota ihres Vaters sah. Sie winkte heftig und hüpfte dabei. Auch der kleine Ali freute sich und hüpfte mit.
Bevor das Auto zum Stehen kam, riss Aysel die hintere Tür auf und zerrte Emin heraus, um ihn zu umarmen. Er fühlte sich von dieser Begrüßung überwältigt und umarmte Aysel genauso herzlich. Der Kleine schob sich dazwischen, als wollte er sagen: „ Auch ich bin noch da! “. Er war inzwischen drei Jahre alt und entwickelte sich zu einem hübschen Jungen, der ziemlich aufgeweckt wirkte. Seine grün-braunen Augen erforschten alles, was sie wahrnahmen, interessiert und wissbegierig.
Emin bückte sich und nahm seinen Namensvetter in den Schoß. Er gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und warf ihn dann hoch und fing ihn wieder auf. Dem Kleinen gefiel es so gut, dass er „noch mal, noch mal“ kreischte.
Emin vermisste Aysels Ehemann Nurettin. „Wo ist denn dein Mann?“
„In der Küche natürlich. Wo soll er sonst sein?“ antwortete Aysel mit einem hämischen Grinsen.
„Sag bloß nicht, dass er gerade abspült.“
„Nein, nein. Abspülen tut er erst nach dem Essen. Er kocht für euch“, erwiderte sie und wirkte stolz, ihren Mann in Griff zu haben.
„Seit wann kann er denn kochen?“ fragte Emin ziemlich überrascht.
„Lass dich überraschen“, mischte sich seine Schwester Hanife ein.
Und in dem Moment ging die gelb gestrichene Holztür auf und Nurettin trat heraus. Er war nicht nur klein, sondern auch ziemlich schlank. Er hatte kräftige, schwarze Haare mit unzähligen Locken. Die rosafarbene Schürze reichte ihm bis zur Mitte seiner Unterschenkel. Er sah weder wie ein Koch noch wie ein Schuldirektor aus.
Er trocknete seine noch nassen Hände an der Schürze ab und kam auf Emin zu. Beide Männer umarmten und küssten sich gegenseitig auf die Wangen. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis jeder jeden gegrüßt, umarmt und die obligatorischen Fragen nach dem Befinden gestellt hatte.
In der Mitte des dunkel braun glänzenden Mahagoni-Tisches standen vier kleinere Töpfe aus rostfreiem Stahl und eine große Salatschüssel. Die Teller mit einem Goldrand lagen ordentlich gereiht zwischen zwei Paaren Messer und Gabeln. Gläser für Wasser, für Wein und Bier bildeten die vordere Grenze der Teller.
„Ich glaube, ich bin in einem Restaurant“, dachte Emin. Diese penible Ordnung des Tisches kam ihm für die gewohnten Verhältnisse bei seiner Familie übertrieben vor. Lag es an seiner Nichte oder an ihrem Mann? Die Antwort dieser Frage wusste er sofort, als Nurettin sich für einen Moment entschuldigte und nach etwa fünf Minuten das Wohnzimmer betrat. Er entledigte sich inzwischen seiner Schürze und anderer Anziehsachen und kam im Anzug zurück. Die dunkelblaue Krawatte aus Seide passte gut zu dem hellblauen Hemd.
Aysel ermahnte ihn, dass er zumindest beim Essen auf die Krawatte verzichten könnte. Er ignorierte ihre Bemerkung und griff nach der Kelle. „So, wir fangen mit einer Linsensuppe an. Ich frage einfach, wer keine Suppe mag.“
Keine Meldung. Alle Augen schauten erwartungsvoll auf ihn. Er füllte die Suppe in die Schüsseln und wünschte allen einen guten Appetit. Alle schlürften die noch dampfende Suppe mit Begeisterung. Danach gab es Imam Bayildi , ein Auberginen-Gericht mit Tomaten und Knoblauch. Laut Erzählungen war der Imam, der diese Speise zum ersten Mal gegessen hatte, von dem außergewöhnlich guten Geschmack so begeistert, dass er bereits nach dem ersten Bissen in Ohnmacht gefallen war. Und seitdem trug dieses Essen den Namen Imam Bayildi , also d er Imam fiel in Ohnmacht.
Mahmut nahm gierig einen großen Bissen, den er fast ohne zu kauen herunterschluckte. Er überschätzte wohl den Durchmesser seiner Speiseröhre, so dass er fast würgen musste. Ihm liefen die Tränen über die Wangen. Er lechzte nach Luft.
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