Ihre Lieblingstiere waren die Eichhörnchen und mit viel Geschick hatte sie Dolora entlockt, wie sie genannt wurden. Leider ließen sich die Eichhörnchen von unten nur schlecht beobachten. Weil Bimm es so fantastisch fand, wie die agilen Tiere von Baum zu Baum sprangen, hatte sie selber das Klettern angefangen. Dort oben war sie nicht nur den Eichhörnchen näher, denen sie natürlich nicht folgen konnte, sie war auch den zahlreichen Vögeln näher. Manchmal entdeckte sie sogar ein Vogelnest und wunderte sich nicht wenig über die Hässlichkeit der nackten Jungen.
Auf den Bäumen fühlte sie sich auch der Welt entrückt. Mit zunehmendem Alter wurde sie neugieriger und bestieg mit Vorliebe Bäume neben der Mauer, um hinübersehen zu können. Doch so hoch sie auch stieg, entdeckte sie auf der gegenüberliegenden Seite nur noch mehr Wald. Sie hatte gehofft, vielleicht das Dorf der Alten zu entdecken. Den Höhepunkt ihres Lebens erfuhr sie mit der Besteigung des höchsten Baumes, der oberhalb des oberen Tores stand. Von dort oben konnte Bimm in ein anderes Tal schauen und meinte dort Grasflächen und auch Hütten zu erkennen. Bei diesem Anblick, da sie nun über ihren eingeschränkten Lebensraum hinaus sehen konnte, öffnete sich eine bis dahin nicht gekannte Weite in ihrer Brust. Ab diesem Tag vernachlässigte sie die Feldarbeit und hielt sich zunehmend im Wald auf. Die große Entdeckung kam aber erst noch.
Nach dem sie, um die Aussicht zu genießen, den großen Baum immer wieder erkletterte, war er wie fast alle Bäume eines Wintertages blattlos. Nun konnte sie durch die Zweige auch in eine Richtung spähen, die ihr bislang verdeckt gewesen war. Dort wo die Sonne untergehen musste, sah sie einen gewellten Horizont, den sie eingehend studierte. Es war das Gebirge der Vogesen, wobei Bimm weder das Wort Gebirge kannte, noch je von Vogesen gehört hatte. Sie konnte sich auf das Gesehene keinen Reim machen, bestieg aber nun den Baum immer öfter. Eines Morgens erfreute sie sich einer sehr klaren Sicht und sie glaubte dann zu wissen was dort drüben zu sehen war. Es waren Berge, bewaldete Berge, mutmaßte sie, so wie dieser den sie hochgewandert war. Und an den Hängen und am Fuße dieser Berge gut zu erkennen, lagen Dörfer mit vielen Häuschen und Türmchen. Wie riesig die Welt doch war. Diese Entdeckung musste Bimm erst einmal verdauen. So wie ihre Klettereien, behielt sie auch ihre Entdeckungen für sich.
So richtig gut nachzudenken war ihr erst möglich, nachdem sie, bis auf das Brot, komplett auf die Sklavennahrung verzichtet hatte. An die ersten fünf Jahre ihres Lebens erinnerte sie sich überhaupt nicht, und ein intensives Gefühl zu Leben empfand sie erst, nachdem sie das Rennen und Klettern entdeckt hatte. Wenn sie so ihre Umgebung betrachtete kam sie zu dem Schluss, dass die angebotenen Lebensmittel dick machten und das Denken verhinderten. Leider wollten ihre Geschwister nicht auf diese sattmachenden, süßen Lebensmittel verzichten. Sie konnte reden wie sie wollte, die Sklaven waren mit allem zufrieden.
Die beste Idee ihres Lebens war, einem der Arbeiter, die sowieso auf beiden Augen blind waren, das Feuerzeug zu nehmen, um damit im Wald herumzuexperimentieren. Sie verbrachte sehr viel Zeit um Erfahrungen zu sammeln was brannte, was schnell brannte oder lange, wie man ein Feuer am leichtesten entzündet und wie man es am Leben erhielt. Aber immer erst abends, wenn Albritz mit seiner Gruppe weg war, und auch nur versteckt im Wald. Irgendwann hatte sie die Feuerstelle, als eine Art kindliche Machtdemonstration, an den Dorfrand verlegt. Den verunsicherten Sklaven, die mit Neuem nicht umzugehen wussten, gefiel das Feuerchen schließlich und einige zeigten so etwas wie Freude. Bimm hatte sie aufgefordert immer schön dicht um die Flammen zu sitzen, damit die Arbeiter nichts sehen konnten und sie sollten auch sitzenbleiben, wenn der Chef kam.
Als das Feuer nach Tagen doch entdeckt wurde, die Sklaven sogar sitzenblieben, obwohl der Chef sie aufforderte Platz zu machen, hatte das Personal zum ersten Mal überhaupt einen Rückzieher gemacht, weil ihnen die Sache nicht geheuer war. Dass Bimm pausenlos auf die Dicken einflüsterte, damit sie nicht aufstanden, konnte Albritz und seine Leute nicht hören. Es war wie ein Sieg über eine Besatzungsmacht, manche der Sklaven konnten sich ein zufriedenes Lächeln abringen. Das Personal löschte dann das Feuer immer in einem Moment, wenn nur wenige oder gar keine Sklaven davor saßen. Doch immer wieder wurde es von neuem entfacht, das Feuer das zuerst unauffällig in einem Loch entzündet wurde, wurde Dauerzustand. Nur weil Dolora in ihrer Verwirrtheit einmal arglos gefragt hatte, ob sich dort die Sklaven ihr Essen brutzeln würden, Kartoffeln oder so, war Bimm auf die Idee gekommen, Essen ins Feuer zu halten.
Nicht nur aus Hunger, auch aus einer kindlichen Neugier heraus, hatte sie schon immer alles Mögliche auf seine Essbarkeit probiert, wann das begonnen hatte, wusste sie nicht mehr. Es war aber ein langer Weg mit viel Bauchweh gewesen, der sogar in einer Pilzvergiftung gipfelte, bis sie genau wusste, was ihr gut tat und was nicht. Inzwischen briet sie sich abends wenn die Arbeiter weg waren, alles was sie tagsüber im Wald gefunden hatte, auf einer Schaufel. Geröstete Maden mit Karotten war Bimms Lieblingsgericht. Ganz hervorragend schmeckten ihr auch in der Glut gebackene Kartoffeln, die sie so lange an dem Stangenbrot rieb, bis sie salzig waren. Das Brot schmiss sie nach der Mahlzeit ins Feuer. Was ihr im Rohzustand besser schmeckte, verzehrte sie unbehandelt.
Nach dem Sturm durchsuchte sie den Wald nach Verwertbarem. Dabei interessierte sie sich weniger für das was man essen konnte, sie suchte nach sonst unerreichbaren Gegenständen die aus den Bäumen gefallen waren, um mit ihnen ihre Schlafkammer zu schmücken. Dr. Albritz hatte damals nicht schlecht gestaunt als er in Bimms Kammer geführt wurde, die sie sich mit den Schwestern teilte, um ihre Pilzvergiftung zu behandeln. Mit Harz waren verschiedene bunte Blätter und Federn an die Wände des alten Hauses geklebt, in den Ecken standen besonders urige und verdrehte Äste und Wurzeln, die sie mühevoll mit der Hacke gekürzt hatte. Auf einer Kiste, die sie nicht haben durfte, befand sich eine Sammlung getrockneter Käfer und eine Handvoll sehr unterschiedlicher leerer Schneckenhäuschen. Auf dem Regal in das der spärliche Besitz der Sklavinnen gestopft war, lagen viele bunte Steine, Kristalle, Quarze und Steine mit Spuren des goldigen Pyrits. In einem Eimer saßen ein Grasfrosch und eine Zauneidechse und warteten auf Futter, außen auf der Fensterbank lagen die Nester diverser Vogelarten. Der Arzt, der so etwas noch nie gesehen hatte, war tief beeindruckt und fand, dass an Bimm eine Forscherin verlorengegangen war.
Im Wald war nach dem Unwetter sehr mühsam voranzukommen, besonders berghoch. Bimm verfiel auf die Idee, zuerst an der Mauer entlang nach oben zu wandern und dann suchend abwärts zu gehen, wobei es mehr ein Klettern als ein Gehen war. Nach zwei Tagen konzentrierter Suche, stolperte sie über ein mittelgroßes Vogelnest, aus dem es herausfunkelte. Sie hob das Nest auf und nestelte aus den Zweiglein einige kleine Stücke einer glitzernden Folie. Dann entdeckte sie noch eine dünne silberne Halskette, an der ein funkelnder grüner Stein hing. Bimms Herz schlug bis zur Schädeldecke, es waren Gegenstände die sie nicht kannte, für sie waren es Zeugnisse einer unbekannten Welt. Besonders der kleine grüne Stein war das schönste was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Das Personal durfte bei Strafe keinen Schmuck tragen, um bei den Sklaven keine Begehrlichkeiten zu wecken. So sah Bimm das erste Mal in ihrem Leben ein Schmuckstück und kam ganz aus dem Häuschen. Die Tage darauf suchte sie fieberhaft weiter, in der Hoffnung, noch mehr solche Nester zu finden, die Gegenstände einer fremden Welt beinhalteten. Was sie dann fand, brachte sie vollends aus dem Gleichgewicht.
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