Halmschor hatte einen Spezialauftrag bekommen, der ihn für Tage vom Dorf fernhielt. Jeden Winter wurden, sobald der Wald kahl war, die Äste die der Mauer zu nahe oder sogar auf ihr zu liegen kamen, abgeschnitten. Die Mannschaften der Dörfer waren jeweils für ein Drittel der Umfassungsmauer zuständig. Die Arbeit war nicht schwer, doch musste man gut zu Fuß sein. Mit einem kleinen, stämmigen Arbeiter der das schon oft gemacht hatte und der den Rucksack mit Essen und Trinken trug, marschierte Halmschor mit dem Schneidegerät auf der Schulter, erstmals auf die Mauer zu. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es an der Mauer entlang dermaßen unwegsam und unübersichtlich sein würde. Oft war es felsig, die Erde rutschig, das Unterholz dicht und überall lagen die abgeschnittenen Äste der letzten Jahre herum.
Im Anblick des ersten Astes der störte, erklärte der erfahrene Arbeiter der Bulster hieß, Halmschor das moderne Gerät. Die größte Schwierigkeit bestand darin, einen einigermaßen planen Untergrund zu finden, für das Gebirge schien der Baumabschneider nicht ersonnen zu sein. Das kugelige Gerät war auf drei Beine geschweißt. Um es aufstellen zu können, waren die Zwei gezwungen Steine und Äste wegzuräumen. Stand es einigermaßen gerade, nivellierten die Beine das Gerät selbständig in die erforderliche Balance. Bulster zog danach ein Röhrchen aus der Kugel, drehte es an und mit dem Lichtstrahl markierte er durch hin-und herfahren die Stelle am Ast, die durchtrennt werden sollte. Das hatte sich das Gerät gemerkt und es wurde ernst. Bulster sah sich um, klopfte drei Mal sachte auf die Kugel und aus dem Röhrchen kam ein scharfer, kaum sichtbarer Strahl, der den Ast abtrennte. Krachende knallte er auf die Mauer und dann auf den Boden.
Wenn in diesen Sekunden ein Vogel durch den Strahl geflogen wäre, hätte er Gliedmaßen oder sein Leben lassen müssen. Auch einem Mensch der in den Strahl kam, würde er schwer verletzen oder etwas Abtrennen. So effektiv das Gerät war, durfte es nur von ausgesuchten Leuten bedient werden, denn immerhin war es auch als Waffe zu missbrauchen. So wanderten Hal und Bulster Kilometer um Kilometer an der Mauer entlang. Das Unterholz in Nähe zur Mauer legte Bulster mit einem Horizontalschnitt ebenerdig um, was verboten war. Nicht immer sah man, was sich im Hintergrund befand. Aber so kamen sie schneller vorwärts. Manchmal war hunderte Meter weit nichts zu tun, dann ging es wieder Schlag auf Schlag und jedes Mal musste wegen jedem Ast das Dreibein in Stellung gebracht werden. Eine Stunde vor Feierabend marschierten sie die zwei bis drei Kilometer zum Dorf zurück.
Am zweiten Tag passierten sie uralte verwilderte Gärten. Die Obstbäume waren überaltert und am Zusammenbrechen. Bulster und Halmschor blieben wie versteinert stehen, auf einem Baumstamm saß Bimm vor einem Eimer und schien irgendwas Braunes zu putzen. Ohne aufzuschauen fragte sie: „Wollt ihr was Saftiges?“ Die Beiden Arbeiter gingen zu ihr hinüber und späten in den Eimer, der aber keine Maden enthielt sondern braune Früchte. Hinter Bimm rankten sich Kiwis durch einen ausladenden, umgestürzten Obstbaum. Sie war gerade am Schälen. Bulster kannte die Früchte gar nicht und Hal nur vom Hörensagen, beide waren aber angenehm überrascht, was es so alles in einem Wald zu essen gab. Der Satz „Die bring ich jetzt zum Chef und zu Dolora“, war ihre Verabschiedung.
Eine halbe Stunde später ging es abwärts und die Arbeiter erreichten das Obere Tor, das nur in Notfällen benutzt wurde. Dort erwartete sie Sturmbruch, was sie zum Schwitzen brachte und für den Rest des Tages aufhielt. So eine Sklavenarbeit, fluchten die beiden. Erst nach einer Woche, bei der sie mehrmals Bimm im Wald herumstreifen sahen, war die Arbeit endlich erledigt. Hal und Bulster, die sich in der gemeinsam verbrachten Zeit viel erzählt hatten, verabschiedeten sich wie zwei Kriegsveteranen mit Umarmung. Hal wusste nun von Bulster, der höchstens 1,40 Meter groß war, dass er in führender Position im „Verband der kleinen Leute“ agierte. Dieser Verband der sich überall einmischte und mitmischen wollte, war der unerschrockene Widerpart des Syndikats. Vor allem beschuldigte der Verband das Syndikat, für die schlechte Ernährung der Bevölkerung verantwortlich zu sein, denn aufgrund der einseitigen Ernährung wurden seit Generationen die Menschen immer kleiner.
Daran musste Halmschor denken, als er in das Dorf hineinmarschiert und Bimm erblickte, die eifrig an roten Rüben und etwas Grünem herumknabberte. Eigentlich ernährte sie sich am abwechslungsreichsten und auf einmal beneidete er sie um ihre Lebensweise. Sie schien immer noch zu wachsen. Nach wie vor unterhielt sie sich meistens mit der Krankenschwester Dolora. Doch wenn Bimm eine üppige Nahrungsquelle aufgetan hatte, ließ sie außer Dolora auch Hal, der ihrer Mutter so ähnlich sah und den Chef probieren. Auch mitten im Winter, der immer Frost- und Schneefrei war, fand sie in der Erde Essbares.
Albritz, Dolora und Halmschor, die immer zusammen arbeiteten, hatten Sonntagsdienst und sich Kuchen mitgebracht. Als sie ihn gerade heimlich im Bus verzehrten, ertönte von draußen eine klare und vergnügte Stimme. „Ich habe euch das Leckerste was der Wald zu bieten hat mitgebracht“. Bimm stand mit einer Schale vor dem Bus und schaute erwartungsvoll zu den Fenstern hoch.
„Ihr deutsch wird immer besser“, bemerkte Dolora, „kein einziger hier, weiß sich so gut auszudrücken.“
„Kein Wunder, wenn sie dauernd mit dir quatscht“, entgegnete Hal. Seine Liebe zu Dolora war Witterungsbedingt etwas abgekühlt, weil sie sich in der Abstellkammer den Unterlaib verkühlt hatte.
„Ich gehe mal raus und begutachte, was sie uns anzubieten hat“, sagte der Chef und verließ den Bus. Gleich darauf rief er: „Kommt raus ihr zwei Zuckermäulchen und schaut, was es hier gibt.“ Unwillig ließen Dolora und Hal ihren Kuchen stehen und begaben sich zur Tür.
„Seht mal“, empfing sie der Chef und hielt ihnen die Schale entgegen, in dem sich irgendein weißes Zeug mit braunen Flecken befand. „Engerlinge, absolut gesundes und natürliches Eiweiß. Deshalb wächst unser Mädchen so gut“, strahlte Dr. Albritz.
Der Chef sollte mal besser aufpassen, was er vor Bimm so alles erzählt, dachte sich Hal. Er fand ihn absolut unvorsichtig, wo sie sich doch jedes Wort merkte und auch noch ihre Schlüsse daraus zog. Wieder im Bus meinte der Alte:
„Das Mädchen ist wie aus einer anderen Zeit“. Er schmunzelte. „Sie ist eigentlich der einzige Mensch den ich kenne, der sich gesund ernährt. Sie ist wie die Jäger und Sammler aus der Steinzeit. Wissen sie was ich meine?“ fragte er in Richtung Dolora und Hal. Dolora blickte verständnislos drein, doch Halmschor sagte:
„Ich weiß was sie meinen und ich leide auch schon lange darunter.“
„In wie weit leiden sie?“ flüsterte Albritz.
„Ich fühle mich als degenerierter Homo sapiens“, flüsterte Halmschor zurück.
Der Arzt räusperte sich. „Dann würde ich mich an ihrer Stelle dem Programm anvertrauen, bevor es zum Trauma wird.“
Die Menschen in Europa, und vermutlich auf der ganzen Welt, litten unter dem was aus ihnen geworden war. Es war allgemein bekannt, dass sich die Menschen zurückentwickelten. Es war ihnen nicht nur bewusst, dass der Homo sapiens vom Wuchs her immer kleiner wurde, auch was sein Hirn betraf, baute er immer mehr ab. Laut Wissenschaft, hatten die wahren Menschen in der Steinzeit gelebt, niemals danach war der Mensch gesünder und sein Hirn größer und mehr gefordert gewesen, als bei seinem Überlebenskampf in der Wildnis. Der moderne Mensch dagegen besorgte sich alles was er benötigt im Einkaufszentrum und seine Tätigkeiten wurden ihm von denkenden Maschinen vorgesagt.
Die Jäger und Sammler früherer Zeiten, so die Überzeugung der Wissenschaftler, waren noch richtige und natürliche Menschen, die mit körperlichem Geschick und geistiger Raffinesse sich und ihre Kinder selbst versorgen konnten. Ihre Nahrungspalette bestand aus vielerlei Beeren, Wurzeln, Früchten, Pilzen, Sämereien, Kräutern und Blättern. Diverse Vogeleier, Würmer, Insekten, Maden, Schnecken, Muscheln und Fische, konnten genauso satt machen, wie ein saftiger Braten, wenn das Jagdglück hold gewesen war. Wobei auch Kleinsäuger nicht verschmäht wurden und besonders die vitaminreichen Innereien beliebt waren.
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