Und diese Leute waren auch handwerklich absolut fit gewesen, denn sie konnten ihre Kleidung, Werkzeuge und Geräte selber herstellen. Sie konnten planen, das Wild überlisten und wussten, wie sie ohne Hungersnot über den Winter kamen. So abwechslungsreich wie damals, ernährte sich die Menschheit danach nicht mehr und so geistig gefordert um überleben zu können, wurde sie seither auch nicht mehr. Deshalb waren die Menschen der Steinzeit viel größer, gesünder und vermutlich auch selbstbewusster und seelisch intakter gewesen.
Und die meisten modernen Menschen wussten das, weil es oft genug in den Medien erwähnt wurde, und sie kamen sich minderwertig vor. Dass sie immer kleiner wurden und ihr Gehirn immer mickriger, sprach eine deutliche Sprache. Von Menschen die das taten wofür die Natur sie geschaffen hatte, waren sie Epochen entfernt. Sehr gravierend war zudem die nachlassende Gebär-und Zeugungsfähigkeit. Während frühere Menschen wie die Karnickel Nachwuchs produzierten, mussten nun die meisten Frauen künstliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Halmschor Drohsdal und seine Zeitgenossen hatten immer genug zu essen, von allem gab es reichlich. In den Geschäften wartete eine unübersichtlich große Zahl an Fertiggerichten, die jeder zuhause in seinem Lichtschrank in Sekundenschnelle zu einer schmackhaften Mahlzeit erwärmen konnte. Aber es waren alles industriell hergestellte Mahlzeiten, die aus den immer gleichen Rohstoffen bestanden und mit Hilfe von Geschmacksstoffen zu ständig neuen Gerichten komponiert wurden. Dazu gemischt wurden die gesetzlich vorgeschriebenen künstlichen Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, damit es der Bevölkerung an nichts mangelte.
An frischem Obst und Gemüse war die Auswahl wesentlich reduzierter, denn es fehlte die Nachfrage. Die meisten Bürger waren nicht nur zu bequem zum Kochen, die modernen Küchen verzichteten sogar auf eine Kochstelle und verfügten nur noch über einen Lichtschrank, in dem auch das Teewasser erhitzt wurde. Deshalb lag in den Geschäften nur sehr wenig Gemüse, und auch wenig Obst. Ein Apfel war ein Apfel, eine Birne eine Birne, eine Kartoffel eine Kartoffel und an Nüssen gab es Walnüsse, weil die in Alemannia wild wuchsen. Dass es von allem einmal hunderte von Sorten gegeben hatte, konnte sich niemand mehr vorstellen. Nur wenige Menschen machten sich die Mühe mit einem eigenen Garten. Bimm war im Herbst mit ihrem Krug voller Walnüsse, Haselnüsse, Eicheln und Bucheckern zu Dolora spaziert und hatte sie gefragt, weshalb die von niemandem gegessen werden. „Das macht zu viel Arbeit“, war die Antwort. Und da lag der Hund begraben. Mit dem, womit die Industrie die Regale füllte, waren aus Bequemlichkeit die meisten zufrieden. Trotz üppiger, sattmachender Versorgung, fehlte es an gesunder Vielfalt und das wirkte sich auf die Konstitution der Menschen aus.
Gegen frühere Zeiten wurden die Menschen im Alltag weder körperlich noch geistig stark beansprucht. Jeder hatte seinen Datenverarbeiter der die Steuererklärung machte, fehlende Vorräte meldete, an Termine erinnerte und die Vorlieben seines Besitzers bediente. Es war ein Gerät, das jede Frage beantwortete und für alle Bewohner eines Haushalts dachte. Zudem ließen sich die Leute von ihrem DV zu allen materiellen und sozialen Belangen des Alltags beraten, was sogar so weit ging, dass man ihn konsultierte, wie man mit seinen Nachbarn und Kollegen umgehen soll.
Niemand musste seine Böden wischen, das machte ein billiges Gerät viel besser, so wie es für alles billige Putzgeräte gab. Niemand musste sich um sein Auto kümmern, das machte das selber und fuhr selbständig in die Werkstatt und Waschanlage. Niemand musste mehr Programme ausdenken und verbessern, das machten die Programme selber und viel fehlerfreier. Selbst das Beziehen des Bettes wurde vom Bett selber bewerkstelligt und wer wollte, konnte jeden Tag auf einem frischen Laken schlafen, während unter der Matratze die andere Hälfte gereinigt wurde.
An jedem Arbeitsplatz stand ein DV der den Arbeitnehmern sagte, was sie zu tun hatten. Wer unterwegs war, machte es nicht ohne Handgerät, denn sonst war er aufgeschmissen. Und selbst Politiker befragten ihre Geräte, wie sie regieren sollten. Die vermutlich Einzigen die kreativ nachdachten, waren die sieben vom Syndikat. Denn wenn es um die Manipulation der Bevölkerung und um Habgier ging, war die menschliche Fantasie den Datenverarbeitern überlegen. Auf jeden Fall wurde Tag ein Tag aus den Menschen von Geräten und Maschinen gesagt, was sie wie, wann und wo zu tun hatten und Halmschor verzweifelte darüber.
Und seit er Bimm beobachtete, fühlte er sich erst recht als degenerierter Homo sapiens. Fast täglich zeigte sie ihm, dass er nicht einmal mehr der Schatten eines Menschen war, wie ihn die Natur einmal hervorgebracht hatte. Er war körperlich geschrumpft, geistig geschrumpft und nur noch Befehlsempfänger der Datenverarbeiter. Hal konnte nicht verleugnen, dass er deshalb psychische Probleme bekam und immer trübsinniger wurde. Weil es mit dem zweiten Kind nicht geklappt und sich seine Frau stattdessen für eine zweite Haut entschieden hatte, übermannte ihn die Trostlosigkeit des Daseins. Da war selbst Dolora nur eine schwache Abwechslung. Weil aber in Europa Lebensmüdigkeit ein häufiger Zustand war und die erforderliche Anzahl Psychiater die finanziellen Mittel der Länder übersteigen würde, hatte man auch dafür ein Programm erdacht, das jeden Seelenklempner ersetzen konnte.
Er solle einen unabhängigen DV nehmen, hatte ihm Albritz eingeschärft, also einen, der weder am Funk noch am Netz hing und in den niemand hineinspionieren konnte, denn von seiner Tätigkeit dürfe niemand erfahren. Das „Programm für deine Seele“ arbeite ohne die Unterstützung der Zentrale viel ehrlicher, hatte der Alte noch gemeint. Ein unabhängiger DV lag bei ziemlich jedem zuhause, zum Beispiel für Kriegsspiele und um folgenlos Sex-und andere verbotene Filme anschauen zu können.
Halmschor steckte den Stift, auf dem das Programm für seine Seele gespeichert war, in sein Gerät, drehte an der linken Kugel, weil er das Hologramm der alten weisen Frau die ihn erwartete, nicht sehen wollte und drehte dann an der rechten, um das Programm in Schwung zu bringen. „Sie sind nicht verbunden“, meldete sich das brettartige Gerät sogleich. Albritz hatte ihn vorgewarnt. Der DV würde dreimal auf eine Verbindung mit dem Regierungs-DV bestehen, doch dann wüsste man in Karlsruhe über seine Probleme Bescheid. Geduldig drehte Hal die Aufforderungen weg und tatsächlich kam dann die Frauenstimme zur Sache.
Zuerst befragte sie ihn über seine Herkunft und Bildung, danach über Familie und Lebensumstände. Endlich wollte die beruhigende Stimme, die Halmschor schon als nervig empfand, auch wissen, wo ihn der Schuh drückte.
„Ich fühle mich nicht mehr wohl in meiner Haut“, begann er vorsichtig. „Ich fühle mich richtig deprimiert“, sagte er wahrheitsgemäß.
„Sind sie mit ihrem Arbeitsplatz unzufrieden, wurden sie bei einer Beförderung übergangen?“ forschte die Frauenstimme.
„Nein, nein, der Arbeitsplatz ist völlig in Ordnung“.
„Liegt es an der Familie, ist ihre Frau nicht mehr empfänglich genug für Sex?“
„Das ist es auch nicht, ich habe eine Geliebte“. Das konnte er aber auch nur hier erzählen.
„Sind sie mit den politischen….“
„Jetzt hör doch auf alles Mögliche aufzuzählen, du alte Schrulle. Ich fühle mich lebensunwert, ich fühle mich als Witz einer einst prächtigen Gattung.“ Hal schnaubte. „Wenn ich ein richtiger Mensch wäre, würde ich mich von allem ernähren was die Natur hergibt, und nicht von dem, was der Supermarkt an Industriefutter in seinen Regalen liegen hat.“
„Sie gehören zu einer Generation die es geschafft hat, die größtmögliche Menschenmasse zu ernähren“, erklärte ihm das Programm.
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