Die NSA schlägt in Wildbach auf
Paul Lange, wie sich Frank Kanpersky jetzt nannte (und dessen Identität er absolut verinnerlicht hatte), hatte dem Wirt des Dorfgasthofes in Wildbach, Heiner Drechsler, sein konkretes Eintreffen am Tag seiner Abreise gegen 8 Uhr früh aus den USA per Mail an die Adresse „Drechsler-International House Wildbach.de“ mitgeteilt. Er würde 19 Uhr 36 aus Frankfurt am Main kommend in Dresden landen, und sich dann per Taxi nach Wildbach begeben, um den Ort dann (so würde es zumindest der Routenplaner sagen) ungefähr 30 Minuten später erreichen zu können, da man die Autobahn ein ganzes Stück nutzen könnte. Eine halbe Stunde auschecken dazugerechnet, würde er wohl so gegen 21 Uhr da sein. Da der Dorfgasthof ja bis 22 Uhr offen sei würde er in jedem Falle rechtzeitig vor dessen Schließung eintreffen. Da es zwischen den USA und Deutschland eine Zeitverschiebung von 5 Stunden gab, sollte Drechsler die Mail so gegen 3 Uhr morgens bekommen haben und damit mehr als genug Zeit gehabt haben, diese zu lesen. Seltsamerweise hatte Lange nicht die von Drechsler angeforderte Lesebestätigung der Mail erhalten.
Das lag daran, dass der Wirt nach der Buchungsanfrage des Amis für das Zimmer (wie er es dem Gemeinderat ja angekündigt hatte) sofort tätig geworden war, und Baumaßnahmen anlaufen ließ. Sein Plan war gewesen, zunächst ein Zimmer komplett umbauen zu lassen, so dass Lange dort über einen ordentlichen Sanitärtrakt verfügen würde. Da er davon ausging, dass der Mann als Handelsvertreter möglicherweise ab und an Kontakt zu seiner Zentrale wegen verschiedenster Dinge aufnehmen müsste, war auch die Installation eines Internetanschlusses vorgesehen. Die mit der Verlegung der Kabelkanäle beauftragten Leute der „Neue Lehmann Bau GmbH“ hatten sich mühsam vom Keller des Dorfgasthofes her bis in das erste Obergeschoss hocharbeiten müssen. Für die Bauarbeiter war das absolutes Neuland gewesen und eine Zeichnung, wie die Sache funktionieren sollte, gab es auch nicht. Drechsler hatte ihnen lediglich erklärt, dass er den Anschluss in diesem Zimmer unbedingt benötigen würde. Während die Installation des Sanitärtraktes durch eine andere Baufirma planmäßig abgelaufen war, mussten Lehmanns Leute mächtig improvisieren. Irgendwie bekamen sie das dann auch hin. Das Kabel wurde vom Anschluss im Keller dann etwas unkonventionell mittels eines Strickes durch den Kabelkanal bis in das Gästezimmer durchgezogen. Da es in der Hälfte des Weges wohl irgendwo etwas fest gehangen hatte, mussten die Männer dann erhebliche Kraft aufwenden, um es weiter vorwärts zu bewegen. Dabei hatte sich unbemerkt an einem leichten Knick des Kabelkanales ein hervorragendes Plastikteil in die Litze des Kabels eingegraben und diese aufgerissen.
Als ein Laptop am Tag der Abreise des NSA Mitarbeiters zu Probezwecken im für ihn vorgesehenen Zimmer an die Dose gehangen worden war, war noch alles in Ordnung gewesen, und die Internetverbindung für Wildbacher Verhältnisse gar nicht einmal so übel. Der Bauunternehmer Lehmann selbst hatte dann noch einen letzten Kontrollgang unternommen, und das Kabel im Keller am Anschluss aus optischen Gründen etwas straff gezogen. Diese Aktion hatte allerdings dafür gesorgt, dass das bereits beschädigte Kabel seine eigentliche Funktion nun nicht mehr erfüllen konnte, da es an der Knickstelle jetzt zum Teil gerissen war. Somit hatte Drechsler auch keine funktionierende Internetverbindung mehr, wovon er aber nichts mitbekam, weil er den Tag über persönlich noch einen ordentlichen Budenschwung in Langes Zimmer durchgeführt hatte. Der Ami sollte sehen, dass er in einem seriösen Haus untergekommen war.
Lange hatte in der Buchungsanfrage den kommenden Tag als Anreisedatum angeben, war aber auf Drängen seiner Vorgesetzten doch schon einen Tag früher als geplant aufgebrochen, da die Sache die höchste Dringlichkeitsstufe erhalten hatte. Drechsler wollte den Abend in Wildbach dann noch mit ein bisschen Entspannung ausklingen lassen, da er wegen der anstehenden Begegnung mit seinem ersten internationalen Gast schon ziemlich aufgeregt war. Bislang hatten höchstens ein paar Handwerker im Gasthof übernachtet. Die einzigen Gäste in der Gaststube zu dieser Zeit waren vier Leute aus dem Dorf gewesen, die ein paar Runden Skat gedroschen hatten und gegen 19 Uhr verschwunden waren. Drechsler hatte dann einen Kumpel angerufen und sich bei ihm zum Bier trinken und Fußballgucken eingeladen.
Paul Lange war über die Zustände am Dresdner Flughafen schon erstaunt gewesen. Zuvor hatte er in Washington eingecheckt und in Frankfurt am Main einen Zwischenstopp eingelegt. Als er an seinem Zielort die Abfertigungshalle betreten hatte, waren ihm zwei Dinge aufgefallen. Einerseits das recht ungewöhnliche Gebäude. Die große und hohe Halle war wohl aus einem ehemaligen Hangar entstanden, denn er sah frei liegende Stahlträger, die geschickt mit modernen Materialien kombiniert worden waren. Alles strahlte einen Eindruck von Weite und Luftigkeit aus. Andererseits hätte es dieser Großzügigkeit kaum bedurft, denn Lange sah nur wenige Menschen in dem riesigen Gebäude. Einige Geschäfte waren zu sehen, aber alle waren geschlossen. Offensichtlich hatte der Airport ein kleines Auslastungsproblem. Die Schlange der Taxen vor dem Gebäude war jedoch lang, und Lange stieg in das erste Fahrzeug ein. Als er sein Ziel genannt hatte, hatte der Fahrer wortlos genickt und war losgefahren. Der Mann schien kein Betrüger gewesen zu sein, denn er setzte seinen Fahrgast ungefähr 30 Minuten später in einem fast vollständig im Dunkeln liegenden Dorf ab. Lange stand direkt vor dem Dorfgasthof. Dieser lag im Finsteren. Als er an der Tür geklinkt hatte, hatte er feststellen müssen, dass die Tür verschlossen war.
Sein Plan hatte erste Risse bekommen, denn seine Vorgesetzten bei der NSA hatten ihn verpflichtet, sie unbedingt noch an seinem Ankunftstag über den Gang der Dinge zu informieren. Dafür benötigte Lange aber einen Internetanschluss, der ihm im Zimmer des Gasthofes felsenfest zugesagt worden war. Warum der Gasthof nicht geöffnet war, hatte er sich nicht erklären können. Lange hatte zwar nicht die Nerven verloren, aber auch nicht richtig gewusst, wie es jetzt weitergehen sollte. Um die Information sicher absetzen zu können musste der NSA Mann einen kleinen unscheinbaren Kasten nutzen, der zwischen Internetanschluss und Laptop geschaltet werden sollte. Man musste lediglich den Netzschalter drücken, dann war er betriebsbereit. Eine grün leuchtende LED bestätigte dies dann. Der Wunderkasten (er wurde auch so genannt, nämlich „Wonderbox“) der Tüftler aus Fort Meade hatte die Aufgabe, sämtliche Botschaften Langes so raffiniert zu verschlüsseln, dass selbst eine abgefangene Nachricht für den Datendieb unbrauchbar gewesen wäre. Lange war eingeschärft worden, die „Wonderbox“ wie seinen Augapfel zu hüten, denn außer dem in seinem Besitz befindlichen Gerät gab es gegenwärtig nur noch zwei weitere im Bestand der NSA.
Heiner Drechsler hatte mit seinem Kumpel ein paar Biere gekippt und sich dann wieder zum Gasthof aufgemacht, in dem sich auch seine Wohnung befand. So gegen 21 Uhr 10 traf er dort ein und sah eine Gestalt vor dem Eingang herumlungern. Der Wirt hatte ziemlich einen in der Krone gehabt, und da ihm auch schon ein paar Mal von irgendwelchen Chaoten die Scheiben eingeschmissen und die Wände beschmiert worden waren, hatte er dem Mann schon aus einiger Entfernung zugerufen:
„Verpiss‘ dich, du Penner!“
Der andere hatte sich aber nicht gerührt und Drechsler eher erwartungsvoll angeschaut.
„Wenn du nicht gleich die Kurve kratzt werde ich ungemütlich, hast du das verstanden, du Arsch?“
„Meine Name ist Paul Lange“ hatte der Mann geantwortet.
Heiner Drechsler war ein bisschen erschrocken gewesen, denn die Anmeldung für das Zimmer lief genau auf diesen Namen.
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