Irgendwann zwang ich mich aus meinem Ausweichmodus heraus. Ich war wieder unbewusst hineingefallen, versuchte nun aber, seine Angriffe nachzumachen. Diese kontrollierten Schläge fielen mir schwerer, denn sie folgten einem Muster. Trotzdem hatte ich am Ende der Stunde drei von ihnen begriffen. Alles in allem verlief die Trainingseinheit ruhig. Deaken hielt öfter inne, um mir bestimmte Schlagfolgen zu erklären oder mir zu zeigen, wie ich mein Schwert effektiver halten konnte.
„Warum zeigst du mir diese Abläufe, wenn das Instinktive doch besser ist?“, fragte ich, als wir zum Mittag zurück in den Speisesaal gingen.
„Weil du auch das können solltest. Du wirst Gegner haben, die solche Elemente benutzen. Wenn du sie kennst und beherrscht, kannst du effektiver auf sie reagieren und deine Gegner schneller einschätzen“, erklärte er und nahm sich ein Tablett. „Ich würde aber gerne weiterhin die instinktive Kampfstrategie vorrangig trainieren, wenn du nichts dagegen hast.“
„Nein, gar nicht. Deswegen hab ich ja gefragt.“
„Schön.“ Er lächelte. Das erste Mal wieder, seit ich ihn heute Morgen zusammengefaltet hatte. Wir holten unser Essen und setzten uns. Lia war vor uns gegangen und hatte sich dann abgeseilt um ihre Serie im TV anzugucken. Also aßen wir heute allein. Mir ging durch den Kopf, dass es wirklich schon fast Gewohnheit war, dass Deaken bei uns am Tisch saß. Anfangs hatte ich immer gedacht, es sei nur wegen Lia, weil sie ihm so nah war. Doch nach dem was sie mir im Mädchenklo erzählt hatte und nach seiner Reaktion auf meine Nachfrage gestern, war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich musterte ihn einen Moment, bis er den Blick hob und mich fragend ansah.
„Tut mir leid, dass ich dich vorhin so angefahren hab“, entschuldigte ich mich, für meinen morgendlichen Ausbruch.
„Schon okay. Allerdings muss ich sagen, dass es Lias Idee war. Nicht meine.“
„Ich weiß. Aber du hast auf sie eingeschlagen und sie hat wirklich gut geschauspielert. Ich dachte echt, du würdest sie treffen. Hättest du doch aber nicht, oder?“, fragte ich argwöhnisch nach.
Er grinste. „Natürlich nicht. Ich muss aber auch zugeben, dass ich kurzzeitig nicht sicher war, ob ihr Plan aufgehen würde.“
„Was hättest du getan wenn nicht?“
„Den Kampf beendet natürlich. Mich hat aber überrascht, dass du wirklich mit dem Schwert eingegriffen hast.“
„Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich hatte es einmal in der Hand.“
„Genau. Und du hast es benutzt. Ich bin sicher, dass du das immer so machen würdest. Hättest du keine Waffe gehabt, hättest du mich sicher erst mal angeschrien oder versucht von ihr wegzuziehen oder irgend so was. Aber du hast dein Schwert gegen mich benutzt und es auch noch wirklich gut eingesetzt.“ Er schaute mir direkt in die Augen. „Verstehst du jetzt, was ich meine? Dass man mit einer Waffe anders reagiert? Helmstedt hätte das auch getan, wenn er eine gehabt hätte. Er könnte noch leben.“
„Helmstedt? Ist er mein Vorgänger?“ Bisher hatten sie seinen Namen nicht erwähnt.
„Ja. Ehler Helmstedt. Er war nicht mehr der Jüngste, aber auch noch lange nicht am Ende.“
„Wie alt war er denn?“
„77. Er hat lange Zeit in Wisteria gelebt. Dort herrschen andere Verhältnisse als hier. Menschen aus unserer Welt altern dort langsamer. Ich glaube, deshalb war er noch so fit. Hättest du ihn gekannt, wärst du nie darauf gekommen, dass er so alt war.“
„Ich hätte ihn gern kennengelernt. Er hätte mir sicher helfen können“, meinte ich und senkte den Blick nachdenklich auf mein Essen.
„Bestimmt hätte er das getan.“
„Wann gibt ein Hüter seinen Schlüssel eigentlich ab?“, hakte ich dann nach und schaute wieder neugierig auf.
„Normalerweise dann, wenn sein Nachfolger die Ausbildung abgeschlossen hat. Bei dir wäre das in spätestens sieben Jahren der Fall gewesen. Aber durch die gegebenen Umstände hat nun Ava deinen Schlüssel.“
„Was wenn ein Hüter nicht aufhören will?“
„Dann nimmt der Alte den Neuen in die Lehre, bis er bereit ist, aufzuhören. Kein Hüter wird gezwungen in Rente zu gehen, genau wie keiner gezwungen wird den Job anzunehmen.“
„Ich könnte also auch noch aussteigen?“
„Sicher. Jederzeit.“
„Dann wäre meine Ausbildung doch aber verschwendet? Angenommen ich entscheide mich kurz vor der Prüfung dazu. Oder ich bin schon Hüterin, komme aber nicht klar damit. Was passiert dann?“
„Das Gleiche wie jetzt. Nur suchen wir dann deinen Nachfolger und bilden ihn aus.“
„Und wenn es keinen gibt?“
„Kommt ein Schlüsselwächter ins Spiel. Ava hat den Schlüssel zu Wisteria schon vor deiner Geburt bekommen. Sie trägt ihn seit vielen Jahre und hat nach dir gesucht.“
„Ava hat mich gesucht?“
„Ja. Und die Obersten der Weave Internate im Land.“
„Alle?“
„Alle“, bestätigte Deaken und ließ seine Gabel sinken. „Fay, du weißt gar nicht, wie wichtig du bist. Wisteria hat seit über zwei Jahrzehnten keinen Hüter mehr und sie ist einer der wichtigsten Anders-Welten. Sie liegt an einem Knotenpunkt im Netz und wenn in ihr etwas geschieht, hat es große Auswirkungen auf andere Welten. Wir waren wirklich erleichtert, als Ava und Meryl dich endlich gefunden hatten.“
„Du sagst immer, wir. Du warst wie alt damals?“
Er lachte leise. „Ja, ich sage wir, weil die Geschwister die das Internat vor uns geleitet haben, wie Eltern für May und mich waren. Sie haben uns in alles einbezogen, denn wir sollten ihre Erben werden. Das ist vor zwei Jahren eingetreten. Viel zu früh für sie, wenn du mich fragst.“
„Wo sind sie?“
„Tot“, antwortete er knapp und senkte den Blick. „Helena und Johan waren Zwillinge wie May und ich. Sie haben alles gemeinsam gemacht. Als in Thursten ein Krieg ausbrach, haben sie die Hüterin dieser Welt begleitet, um sie zu unterstützen. Sie kamen nicht zurück.“
„Das tut mir leid“, sagte ich leise und senkte ebenfalls den Blick. Ich hatte nie darüber nachgedacht, doch es war schon irgendwie verwunderlich, dass zwei so junge Menschen wie May und Deaken ein so wichtiges Internat leiteten. May als oberste Professorin und Deaken als ihr Stellvertreter.
„Ist schon gut. Wir haben ihnen viel zu verdanken und halten das in Ehren, indem wir ihr Werk fortsetzen.“
Dazu konnte ich nichts sagen, also schwieg ich. Ich dachte an Wisteria und wie lange meine Anders-Welt schon ohne Hüter auskommen musste. Und ich dachte daran, wie sehr meine Ausbildung vorangetrieben wurde.
Mir kam ein Gedanke. „Deaken?“
„Mhh?“, raunte er und stocherte, den Blick gesenkt, in seinem Mittagessen.
„Was geht eigentlich genau in Wisteria vor?“
Sein Kopf fuhr erschrocken hoch und ich erkannte Furcht in seinem Blick. Sein Gesicht wurde kreideweiß, während er mich nur anstarrte.
„Ist alles okay? Du siehst aus, als wäre dir schlecht“, stellte ich fest und wunderte mich ehrlich über seine Reaktion. Es war eine normale Frage gewesen. Aber wie er mich ansah, zeigte mir, dass mehr dahintersteckte. Dachte er, ich wüsste mehr, als ich wissen sollte?
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