„Mama, wann ist der Krach vorbei“ fragte einer ängstlich.
„Ich weiß es nicht Karl. Bestimmt bald. Dann gehen wir wieder in die Wohnung hoch.“
Die Einschläge kamen noch näher, dann hob eine gewaltige Detonation den ganzen Kellerraum ein Stück an, einige der Leute stürzten von den Bänken, Angstschreie wurden laut. Das Licht ging aus und Taschenlampen flammten auf. Es schmetterte jetzt unaufhörlich von oben und die Wände des Luftschutzraumes wankten, einige Ziegelsteine lösten sich aus den Wänden und von der Decke fielen jetzt nicht mehr bloß Kalk, sondern ganze Betonbrocken. Über den gefangenen Menschen im Luftschutzraum tobte ein Inferno aus explodierenden Luftminen, Sprengbomben und Feuer auslösenden Stabbrandbomben. Trotz der krachenden Detonationen war deutlich zu hören, dass über und neben dem Luftschutzraum Gebäude einstürzten, alles schwankte im Keller. Ilse Kramer hörte Weinen und Beten und drückte ihre Söhne ganz fest an sich.
„Aufhören“ schrie eine Frau in Todesangst „ich will hier raus!“
In diesem Augenblick traf eine Sprengbombe das Haus über ihnen direkt und riss einen Teil der Decke des Schutzraumes auf. Trümmer des zusammengestürzten Hauses über dem Keller prasselten in den Raum und begruben vier des an dieser Stelle sitzenden Menschen. Entsetzensschreie ertönten. Ilse Kramer sah durch die Ritze im Schutt etwas Licht, packte ihre Kinder und ging schreckensstarr dorthin, da die Luft an ihrem Platz knapp geworden war. Wahrscheinlich würden die Einsatzkräfte der Feuerwehr später an dieser Stelle versuchen die Verschütteten auszugraben.
Der Pilot der B 17 hatte die Stabbrandbomben mit den Sprengzündern nur ungern als Waffenladung an Bord. Zwar wurde die Zündnadel des Aufschlagzünders durch einen Sicherungsstift arretiert, aber er hatte trotzdem ein ungutes Gefühl, weil diese Modifikation der Brandbomben heute das erste Mal zum Einsatz kam. Er flog in der zweiten Welle mit, denn es hatte sich bewährt, die Bodenziele erst mit Luftminen und Sprengbomben anzugreifen. Die Sprengbomben waren in den meisten Fällen mit Verzögerungszündern versehen, so dass sie nicht beim Aufschlag explodierten, sondern erst tief im Erdreich oder in den Luftschutzräumen. Diese Bomben hatten die Aufgabe, Wasser- und Gasleitungen zu zerstören und damit auch eine Brandbekämpfung zu verhindern oder zu erschweren. Die Minen dagegen entwickelten einen ungeheuren Luftdruck und deckten die Dächer der Häuser ab und zerstörten Fenster und Türen. Da die Dachstühle überwiegend aus Holz bestanden fanden die Flammen schnell Nahrung und durch die meist hölzernen Treppenhäuser konnte sich das Feuer auch schnell nach unten ausbreiten, so dass die Häuser vollständig ausbrannten und ganze Stadtviertel in einem Feuersturm vernichtet wurden. Als der Pilot nach unten schaute sah er schon dichten Rauch aufsteigen und als er die Abwurfposition erreicht hatte regneten mehr als 80 Stabbrandbomben herab. Der Mann wusste auch, dass noch eine dritte Welle von Bombern folgen würde, die in zirka 15 bis 20 Minuten über der Stadt erscheinen sollte, um durch den Abwurf weiterer Bomben die am Boden laufenden Rettungs- und Brandbekämpfungsmaßnahmen zu verhindern, so dass sich das Feuer weiter ungehindert ausbreiten könnte. Der Pilot schaute sich um, deutsche Jagdflugzeuge waren weit und breit nicht zu sehen. Der Heimflug sollte eigentlich ungefährlich sein und er würde mit seinen Männern heute Abend im Kasino ein paar Biere auf den erfolgreichen Einsatz trinken.
Genau wie alle anderen im Keller war Ilse Kramer über und über mit Staub bedeckt und durch den eindringenden Rauch schmerzten ihr die Lungen. Wieder waren relativ nah Explosionen zu hören, dann detonierte eine Sprengbombe 5 Meter von der eingestürzten Kellerdecke entfernt und fegte einige Trümmerstücke dort beiseite. Dadurch war es möglich, durch ein Loch von ungefähr 2 Meter Durchmesser den Luftschutzraum zu verlassen. Als sie mit ihren Kindern nach draußen flüchten wollte schlug eine Brandbombe an dieser Stelle ein. Sofort trat eine starke Stichflamme aus und zerschmolz die Bombe selbst zu einem weißglühenden und auseinanderlaufenden Metallbatzen. Durch das Loch tropften Teile davon in den Keller und die Menschen flüchteten wie vor Angst irre gewordene Schafe in eine entfernte Ecke des Kellers und drängten sich dort vor Entsetzen schreiend zusammen. Die Luft wurde immer knapper, da die extrem heiß brennende Bombe den Sauerstoff aus dem Keller aufzehrte. Nach 8 Minuten war die Brandbombe bis auf einen kleineren noch vorhandenen und intakt aussehenden Teil verglüht. Von draußen war ein peitschender Luftstrom zu hören, die überall lodernden Brände fraßen den Sauerstoff in der Umgebung. Ilse Kramer nahm ihre letzten Kräfte zusammen, dann zerrte sich ihre Söhne hinter sich her und taumelte zu dem Loch in der Kellerdecke. Sie trat auf die im Luftschutzraum liegenden Schuttteile und kam so nach oben. Dann zog sie ihre Jungen hoch und sah sich um. Alles was in einem Umkreis von 500 Metern früher gestanden hatte war zerstört worden. Die Häuser waren ganz oder teilweise eingestürzt, überall schlugen Flammen aus den Resten der Häuser heraus und es war extrem heiß. Der Sog des Feuersturms zerrte an ihren Sachen und sie war vollkommen orientierungslos, wohin sie jetzt flüchten sollte. Dann nahm sie ihre Söhne an die Hand und begann über die Trümmer zu klettern. Als die drei Menschen zwei Meter vorangekommen waren explodierte der restliche Teil der hinter ihnen liegenden Brandbombe. Die vielen Splitter fuhren Ilse Kramer und ihren Kindern in die Köpfe und Körper und zerrissen ihnen Herzen, Lungen, Därme, Lebern, Mägen und fetzten bei ihrem Austritt aus den Leibern Fleischstücke heraus. Alle drei waren augenblicklich tot.
10 Tage später erhielt Feldwebel Gunter Kramer die Nachricht, dass seine Frau Ilse und seine Söhne Karl und Theodor bei einem Luftangriff ums Leben gekommen seien und man sie mit den anderen vielen Opfern des Angriffs in einem Massengrab am Stadtrand beigesetzt hätte. Drei Tage später wurde der Mann zusammen mit seiner Besatzung des Sturmgeschützes bei der Abwehr eines russischen Panzerangriffs getötet. Die Familie Kramer hatte aufgehört zu existieren.
Für Laszlo Kovac und Gabor Zilin war es eine leichte Entscheidung gewesen, das Angebot der Deutschen anzunehmen, denn diese hatten ihnen hervorragende Konditionen unterbreitet und außerdem vertraten beide stramme nationale Positionen, die sich mit denen ihrer Auftraggeber ziemlich gut deckten. Insbesondere das Vorgehen gegen die Juden stieß bei ihnen auf Zustimmung und auch den Thesen der Rassenlehre konnten sie viel abgewinnen. Als sie noch in Budapest an der Universität arbeiteten beschäftigten sie sich schon damals ab Mitte der dreißiger Jahre mit Fragen der Kernspaltung. Besonders Kovac hatte umfangreiche theoretische Forschungen auf diesem Gebiet geleistet, Zilin hatte mehr die technische Machbarkeit und Umsetzung bearbeitet. Für beide stand fest, dass sie ihre Erkenntnisse unter den Bedingungen und begrenzten Mitteln, die ihnen in Ungarn zur Verfügung standen, nicht umsetzen konnten. Der erste Schritt wäre die Errichtung eines Forschungsreaktors gewesen, und dies würde an den fehlenden Kapazitäten scheitern. Weiterblickend und eine militärische Nutzung im Blick habend war den beiden Männern klar geworden, dass dazu gewaltige Anlagen und Apparaturen sowie eine entsprechende Anzahl von weiteren Forschern und Arbeitskräften erforderlich wären. Ihre Auftraggeber waren so vorausschauend gewesen, bereits ab Frühjahr 1943 beginnend in einem abgelegenen Tal in den Dolomiten durch KZ-Häftlinge eine gewaltige Stollenanlage in den Berg treiben zu lassen, die bei einem Erfolg ihrer Forschungen die entsprechende Maschinerie aufnehmen könnte. Nicht von ungefähr hatte Albert Speer ihrem Projekt hohen Vorrang eingeräumt, denn im Gegensatz zu Hitler glaubte er nach der Niederlage von Stalingrad und der allgemeinen Situation an den Fronten nicht mehr daran, dass Deutschland den Krieg mit konventionellen Waffen noch gewinnen könnte. Dass die Arbeiten an dem Projekt enorme Kapazitäten binden würden war Speer durchaus bewusst gewesen, und unter den Bedingungen des Jahres 1942, also knappen Arbeitskräften und Ressourcen ging er ein riskantes Spiel ein. Die zunehmenden Einflüge der Engländer und Amerikaner nach Deutschland hätten mit Sicherheit eine enorme Gefährdung der Produktionsanlagen bedeutet und so lag es nahe, diese unter dem gewaltigen Gesteinsmassiv einzurichten. Speer hatte Hitler andeutungsweise von dem Projekt informiert, aber dieser hatte dem nur wenig Bedeutung beigemessen, denn er war mehr darauf fixiert, schnell die Initiative besonders im Osten wieder zurückzugewinnen, und ob mit einem Erfolg des Atomprojektes überhaupt zu rechnen war, stand keineswegs fest. An den Universitäten wurden geeignete Wissenschaftler rekrutiert und bereits 1942 arbeiteten mehr als 400 Personen in dem Bergtal. Kovac und Zilin sowie ihre Mitarbeiter wurden durch Speer mit ausreichenden Mitteln und Kapazitäten ausgestattet und richteten ihre Labors nahe dem Stollensystem in mehreren massiven und gut geschützten und mit Tarnfarben gestrichenen Stahlbetongebäuden ein. Sowohl die Forschungseinrichtungen als auch die Stollen wurden hermetisch von SS Truppen abgeschirmt und in der menschenleeren Gegend war mit keinen weiteren Störungen zu rechnen. Erst wenn die Häftlinge genügend Vortrieb geschafft hätten und das Forschungsprojekt auf dem richtigen Weg wäre würden die Anlagen geliefert und installiert werden. Dass es bis dahin noch lange dauern könnte war ihnen bewusst aber Speer hatte ihnen deutlich gemacht, dass die Zeit absolut drängen würde und ihre Arbeiten für den Ausgang des Krieges mit entscheidend sein könnten. Im Sommer 1943 waren die theoretischen Arbeiten abgeschlossen, und die Produktionsanlagen wurden angeliefert. Die Prognose sah so aus, dass man gegen Jahresende den ersten Versuch durchführen könnte.
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