Er feixt. „Wenn du willst, geh raus und dreh eine Runde um die Tower. Ich warte hier.“
Er spielt auf meine Flügel an und zum ersten Mal seit Monaten kann ich über einen seiner Witze lachen. „Später vielleicht.“
„Das wird ein Anblick. Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist.“
„Mach ich.“
Ty regt sich und bekommt sofort unsere Aufmerksamkeit. Sie öffnet blinzelnd die Augen. Kurz fliegen sie unstet umher, dann finden sie mich. Ihren Blick kann ich nicht deuten.
„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, frage ich leise.
Keine Antwort, dafür ein minimales Stirnrunzeln. Ich muss schmunzeln. Sie hat monatelang geschlafen und ich frag sie so einen Scheiß.
„Hey Kleine.“ Bay stellt sich hinter mich und legt sanft eine Hand auf die Decke, wo ihr Bein liegt. „Freut mich, dass du wieder da bist.“
Ihre Augen gleiten zu ihm, verengen sich, als würde sie überlegen, was er meint, dann sieht sie mich wieder an. Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Aber kann das sein?
„Ty. Weißt du, wer das ist?“, frage ich, meiner Vermutung folgend.
Ihr Blick hellt sich minimal auf, geht wieder kurz zu Bay und dann wieder zu mir.
„Sie weiß es nicht“, lasse ich meinen Bruder wissen, ohne den Blickkontakt zu Ty zu unterbrechen. „Weißt du, wer ich bin?“, frage ich mit flauem Gefühl im Magen.
Ihr Blick bleibt bei mir und wird minimal verwirrt.
„Scheiße.“ Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar und werfe Bay einen hilfesuchenden Blick über die Schulter zu.
Er hebt seine kurz und meint dann: „Kein Problem. Ty? Ich bin Basil. Aber du darfst sehr gern auch Bay sagen. Er hier“, er stößt mit dem Arm vor meine Schulter, „ist Enyo. Oder En. Er ist dein Freund. Ihr zwei seid so hier.“ Bay hebt die freie Hand und verschlingt Mittel- und Zeigefinger miteinander. „Es werden wohl heute noch ein paar mehr Leute kommen, die dich besuchen wollen.
Einer sieht aus wie ich, nur älter. Er heißt Bent und ist Ens und mein Bruder. Und Cara wird sicher auch kommen. Sie ist unsere kleine Schwester. Wir haben dich echt vermisst, Kleine. Du hast keine Vorstellung.“
Tys Blick war die ganze Zeit bei Bay, während er gesprochen hat und geht jetzt zurück zu mir. Es ist merkwürdig, zu wissen, dass sie nicht weiß, wer vor ihr sitzt. Ich kenne sie so genau, dass ich die Gedanken aus ihren Augen lesen kann. Sie hat keine Ahnung, wer ich bin. Nicht mehr.
„Das wird wieder“, sage ich, weil ich ihre Unsicherheit spüre. „Das kann vorkommen. Dein Gehirn war stark geschwollen und hat geblutet. Einige Bereiche brauchen länger, um zu heilen. Dein Gedächtnis kommt sicher wieder.“
Sie sieht mich an, als würde ich ihr was vom Pferd erzählen.
Bay klopft mir auf die Schulter, spricht aber zu ihr. „Es wird hart werden. Aber hey. Es gibt nichts, was du nicht schaffst. Und wir werden dir helfen, Kleine. Ich verspreche es dir, so wahr ich hier stehe.“
Am Mittag kommen auch Bent und Cara wie von Bay vorhergesagt. Cara kann kaum reden, weil ihr die ganze Zeit Schluchzer im Hals stecken und auch mein sonst so souveräner großer Bruder hat tränenfeuchte Augen, als er Ty im endlich wieder richtig wachen Zustand sieht.
Ich erkläre ihnen, dass sie nicht weiß, wer wir sind, doch sie behandeln Tyree trotzdem ganz normal. Als würde mein Mädchen alles verstehen, was sie sagen und zu allem einen Meinung äußern. Man merkt ihr allerdings auch an, dass sie schnell die Konzentration verliert. Dann schweift ihr Blick ab und ihre Aura wird matt vor Müdigkeit.
„En“, holt Bent meine Aufmerksamkeit auf sich, als Ty wieder eingeschlafen ist. „Wenn das mit Tyree weiter so gut läuft ...“ Kurz sieht er unsicher aus. „Was hältst du davon, wenn du dich dann unseren Planungen anschließt?“
„Was meinst du?“ Er denkt doch nicht wirklich, ich lasse sie jetzt allein, nur weil sie wach ist. Gerade jetzt werde ich ihr nicht mehr von der Seite weichen.
„Wir müssen die weitere Verteidigung der Stadt planen. Und wir brauchen jeden Mann.“
„Pff. Ich bin doch nur ein normaler Einwohner der Stadt“, wiederhole ich Saids Aussage. „Kein Krieger. Was soll ich also mitplanen?“
„Du bist immer noch Ratsmitglied. Deine Meinung zählt.“
„Ich habe keine Meinung, Bent. Ganz ehrlich? Es ist mir scheißegal, was da draußen passiert.“ Ich tippe auf die Matratze des Bettes. „Das hier ist alles, was für mich zählt.“
Bents Blick wird düster. „Wirklich? Und was, wenn Ryél fällt? Dann ist auch das hier nicht mehr, Enyo! Ty ist immer noch eine Aleárth. Die Elfen, die hierherkommen, werden sie genauso tot sehen wollen. Was bringt es dir, an ihrem Bett zu sitzen, wenn du draußen kämpfen kannst, um ihr ein Leben zu ermöglichen.“ Er greift meinen Arm und packt fest zu. „En. Hör zu! Jetzt hast du wieder eine Chance auf ein Leben mit Ty! Aber du minimierst sie, wenn du hier sitzen bleibst!“
„Sie braucht mich aber!“
„Du verlässt sie doch nicht.“ Eindringlich schaut er mir in die Augen. „Du bist doch da, Bruder! Und noch wichtiger, du tust etwas, das euch beiden nützt! Komm schon!“
Ich wende den Blick ab und schaue stattdessen mein Mädchen an. Sie liegt in ruhigem Schlaf und hat keine Ahnung, was da draußen passiert. Ich habe auch keinen Plan, denn ich habe seit Monaten die Sonne nicht mehr gesehen. Ich war hier und habe bei Tyree gewacht.
„En“, kommt es nun leise von Cara. „Hilf uns. Hilf den Menschen draußen und sorge dafür, dass Ty eine Zukunft hat, die keine Gefahren mehr für sie birgt, wenn sie nur die Stadt verlässt.“
Ich schließe die Augen - alles für meine Ty - und nicke.
Einen Monat später
Mit großen Schritten nehme ich immer zwei Stufen auf einmal und komme dann auf dem Flur raus, der zu unserer Wohnung führt. Es ist noch immer die Gleiche wie damals. Ich hatte umziehen wollen, denn was dort geschehen ist, wollte ich nicht immer wieder vor Augen geführt haben. Aber die Therapeutin, die Ty jetzt betreut, meinte, es wäre besser, wenn sie in eine bekannte Umgebung kommt.
Ich habe die berechtigte Befürchtung, dass es zu viel für mein Mädchen wird und deshalb steht eine zweite Wohnung zu unserer Verfügung bereit. Auch auf diesem Flur, aber weiter vorn und ohne irgendwelche schlimmen Erinnerungen.
Heute soll Tyree das erste Mal wieder herkommen. Zwar hat sie keine Schmerzen mehr und auch die Physiotherapie schlägt gut an, aber sie ist noch lange nicht gesund genug, um komplett ohne ärztliche Behandlung zu sein, doch sie darf das Krankenhaus verlassen und sie hat mir klargemacht, dass sie hierher will.
Bis heute hat sie keine Ahnung, was passiert ist. Sie weiß nichts mehr. Ihr Gedächtnis ist noch nicht wiedergekommen, aber das könnte sich ändern, wenn sie in eine bekannte Umgebung kommt. Zumindest meinen die Ärzte das.
Weil Ty so vielleicht schneller wieder auf die Beine kommt, wird auch ein Heiler in unsere Etage ziehen. Da ich jetzt öfter an Ratssitzungen teilnehme, bin ich nicht immer da, um aufzupassen. Der Heiler wird also Tag und Nacht bereitstehen und aufpassen, dass alles so läuft, wie es soll.
Auf die Beine kommen , geht es mir durch den Kopf. Ty kann nicht laufen. Sie hat auch große Probleme beim Sprechen und überhaupt ist sie gerade auf jede Hilfe angewiesen. Ich sehe ihr an, dass sie das gewaltig stört.
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