Laut ihrer Therapeutin ist Ty mental komplett anwesend. Sie kann denken und verstehen, wie jeder andere auch, doch ihr Geist und ihr Körper harmonieren nicht. Sie will, doch sie kann nicht. Es tut mir weh, das zu sehen, denn ich spüre, dass es ihr zusetzt.
Meine Gedanken kreisen um all das, als die Tür vom Fahrstuhl aufgeht. Ich wende mich vom Fenster ab und sehe den Heiler, der Ty in ihrem Rollstuhl auf mich zu schiebt. Mein Lächeln bringt sie zum Lächeln, dann ist sie bei mir und ich geh in die Knie.
„Hey Kleine. Wie geht’s dir?“
Sie nickt und lächelt weiter, was mir sagen soll, dass es gut ist.
„Gehen wir rein? Willst du das wirklich?“
Ihr Lächeln verschwindet, doch sie nickt erneut. Sie weiß, dass etwas passiert ist, weil ich es ihr erzählt habe. Aber eben nur grob, damit sie weiß, warum ihre Situation so ist, wie sie ist. Die Details und das Baby habe ich ausgelassen. Es wäre zu viel geworden. Ich denke, sie hat es auch so verstanden. Jetzt schiebt der Heiler sie durch die Tür in unser Wohnzimmer. Ihr Blick fliegt durch den Raum, als würde sie etwas suchen.
„Ich muss noch mal kurz runter und meine Sachen holen“, gibt der Heiler an. „Bin in zehn Minuten wieder da. Dann machen wir Abendessen.“
„Okay“, stimme ich zu und er geht.
Ty sieht sich noch immer um. Ihre Stirn liegt in Falten.
„Möchtest du auf das Sofa?“, frage ich und deute auf das Sitzmöbel.
Ihr Blick folgt kurz meiner Geste, dann schaut sie mich an und schüttelt den Kopf.
„Gut. Hast du Durst?“
Wieder das Kopfschütteln.
„Müde?“
Erneut verneint sie es und wendet dann den Blick ab. Ihre Aura wird dunkel. Ty ist genervt.
Ich umrunde sie und gehe abermals vor ihr in die Knie. „Ty. Wir kriegen das hin. Bisher haben wir alles geschafft. Das hier wird auch wieder.“ Ich halte ihren Blick fest und ihre wunderbaren hellgrauen Augen huschen zwischen meinen hin und her. Auf der linken Pupille liegt ein leichter weißergrauen Schleier, der sich fast mit dem Grau ihrer Iris deckt. Noch ein Überbleibsel, dass uns immer an die vergangen Monate erinnern wird. Auf dem Auge wird Ty nie wieder richtig sehen können. Aber dieser kleine Makel nimmt ihr nicht einen winzigen Hauch an Schönheit.
Sie schnaubt missmutig und öffnet den Mund. „Aaich ...“ Ihre Augen schließen sich resigniert, womit sie mir den Blick ebenfalls verwehrt..
„Ty sieh mich an, bitte.“
Sie tut mir den Gefallen.
„Wir schaffen das! Du schaffst das! Und ich helfe dir. Okay?“
Ihre Schultern heben sich minimal, doch ihre Aura bleibt betrübt.
Ich erhebe mich und nehme sie in die Arme. Noch lieber, als sie nur zu halten, würde ich sie küssen, doch das geht nicht. Es ist immer noch merkwürdig, weil ich für sie ja nicht mehr bin, als ein Bekannter. Dass ich hier sein darf, ist aber schon so viel wert für mich.
Die folgenden Tage verbringe ich größtenteils damit, es meinem Mädchen so bequem wie möglich zu machen. Jeden Morgen hat sie Physio- und Sprachtherapie mit dem Heiler, bei der ich nicht viel machen kann, außer ihr gut zuzureden. Doch bei allem anderen kann ich helfen und tue es, so gut wie möglich.
Eigentlich sollte auch eine Pflegekraft kommen, die ihr beim Baden und allem anderen hilft, aber mit Tys Zustimmung habe ich den Job übernommen. Ich bin froh, dass sie mir ihr Vertrauen in dieser Hinsicht schon schenkt und es macht mir nichts aus, das alles zu tun. Schon gar nicht bei ihr. Wenn ich denn irgendwann mal meine Ausbildung beendet habe, werde ich solche Aufgaben auch bloß machen müssen. Und wie gesagt, bei Tyree macht es mir überhaupt nichts aus.
„Hast du Hunger?“, will ich wissen und stelle ihr schon den Teller hin. „Ich habe Suppe gemacht. Willst du probieren?“
Sie nickt, doch als ich den Löffel nehme und ihr beim Essen helfen will, wehrt sie ab.
„Was ist? Zu heiß?“
Sie schüttelt den Kopf und greift dann nach meiner Hand, die das Besteck hält. Mit der anderen greift sie den Löffel und nimmt ihn mir unbeholfen ab.
„Du willst es allein versuchen? Okay.“
Mit konzentriertem Gesichtsausdruck senkt sie den Löffel langsam in die Suppe und hebt ihn dann vorsichtig wieder an. Er ist viel zu voll, doch ich tue nichts und warte ab. Ihr Blick bleibt auf dem Löffel, denn auch Ty scheit zu registrieren, dass das nicht klappen wird, ohne etwas zu verschütten.
Ihre Hand zuckt kurz und schon ist der Löffel nicht mehr so voll. Langsam und ungelenk führt sie ihn Richtung Mund, doch sie trifft nicht und das Essen verteilt sich auf ihrem Oberteil. Sofort wische ich es trocken.
„Nochmal?“, frage ich und ohne Antwort, probiert sie es erneut. Leider wieder ohne großen Erfolg, denn abermals ist ihre Augen-Hand-Koordination zu schlecht. Ich merke, wie sich der Frust in ihr aufbaut, doch sie versucht es ein drittes Mal. Und ein drittes Mal klappt es nicht. Jetzt bricht der Frust aus ihr heraus und der Löffel fliegt ein kleines Stück, weil Ty ihn wütend von sich wegschleudert.
„Hey Kleine. Ist okay. Es war der erste Versuch.“
Ihr Blick richtet sich wütend auf mich und ihr Mund will Worte formen, die am Ende aber keinen Sinn ergeben.
Ich hebe die Hand an ihre Wange, um sie zu trösten, doch Ty dreht den Kopf weg und schmollt grimmig.
„Möchtest du es mit einer Scheibe Brot versuchen? Vielleicht ist das einfacher?“
Sie schüttelt nur den Kopf.
„Aber du musst noch was essen. Du ...“
Ein scharfer Blick von ihr unterbricht mich.
„Na gut. Willst du dann schlafen gehen?“
Sie nickt, also mache ich sie zum Schlafen fertig und lege sie dann in unser Bett. Derzeit schläft sie allein darin, aber ich habe ein Gästebett im Zimmer, damit ich da bin, wenn Ty was braucht. Sie rutscht tiefer und zieht die Decke fast bis über den Kopf. Sie ist genervt, was ich verstehen kann. Es muss frustrierend sein, geistig alles zu können, es körperlich aber einfach nicht zu schaffen.
Wenig später liege auch ich in meinem Bett und beobachte die schmale Erhebung unter der Decke, die meine Freundin ist. Wie gern würde ich neben ihr liegen, aber sie hat es mir noch nicht erlaubt. Also warte ich auf sie.
5
Tyree - Einen Monat später
Am Kalender fehlt ein neues Blatt, was mir sagt, dass ein weiterer Monat rum ist. Es sind jetzt also schon zwei Monate, die ich in diesem gottverdammten Rollstuhl sitze, fast drei sogar, seit ich aus dem Koma aufgewacht bin und in denen ich nichts geschafft habe.
Okay, wenigstens kann ich mittlerweile ganz gut selbstständig essen und auch sonst habe ich wieder mittelmäßige Befehlsgewalt über meine Gliedmaßen. Aber ich kann noch immer nicht laufen. Auch das Sprechen fällt mir noch mehr als schwer. Kurze, einfache Sätze gehen. Wie hab hunger oder nerv nicht .
Nerv nicht , sage ich meisten zu Enyo. Denn er nervt schon ab und an. Ich weiß, dass er es gut meint, denn er will mich bei allem unterstützen. Aber manchmal übertreibt er es. Ich kann nicht mal niesen, ohne dass er sofort Gewehr bei Fuß steht und den Notarzt rufen will.
Ich will wirklich endlich selbstständig werden, doch bisher tut keiner großartig was. Der Heilerelf, der hier nebenan wohnt, trainiert morgens mit mir und dann war es das. Die Therapeutin kommt nur noch sporadisch vorbei, denn ich kann ja eh nicht viel sagen. Die Sprachtherapie ist Kinderkacke und besteht aus nicht viel mehr als mamama und dadada. Ich bin doch kein Baby mehr, verflucht! Auch mein Gedächtnis ist noch nicht wieder da.
Irgendwas ist da wohl noch nicht ganz richtig in meinem Kopf und sie wollen mich nicht überfordern. Das - nervt! Weil ich selbst weiß, dass ich es schaffen würde. Aber ich brauche Hilfe. Ich kann nicht allein aufstehen und gehen üben. Und Enyo ist viel zu vorsichtig, wenn es um irgendwelche anderen Therapien geht. Er behandelt mich wie ein rohes Ei.
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