Zehn Minuten später hält der Zug erneut. Ich brauche einen Moment, stehe dann aber frustriert auf und folge meinen Bruder aus dem Abteil. Doch kaum bin ich draußen, laufe ich in ihn hinein. Da steht er und schaut auf etwas zu seinen Füßen hinab. Ich spähe an ihm vorbei, um zu sehen, um was es sich handelt und erkenne, dass es nicht etwas, sondern jemand ist.
Ein Zwerg, der ihm gerade mal bis kurz übers Knie reicht, steht vor ihm. Die Arme vor der Brust verschränkt, fixiert er Bent mit zornigem Blick. Ich trete an die Seite meines Bruders und mustere den Gnom.
„Gott, bist du klein“, rutscht es mir raus und Bent stößt erheitert die Luft aus.
Der wütende Blick des Zwerges trifft mich. „Was wollt ihr hier?!“, fragt er gereizt und schaut nun zwischen uns hin und her. „Was glaubt ihr, gibt euch das Recht, mit meinem Zug zu fahren?!“
Bent zieht die Augenbrauen hoch und sagt: „Ich wusste nicht, dass es uns verboten ist.“
„Ist es auch nicht“, feixe ich. „Der Kleine ist nur stinkig, weil wir seine Fahrgäste vergrault haben.“
„Halts Maul, Elf!“, spuckt er mir vor die Füße. „Ihr habt hier unten nichts verloren! Verschwindet!“
„Ey, bleib mal ruhig, Kleiner“, versucht Bent ihn zu beruhigen und macht eine nach unten drückende Geste, die komm runter bedeuten soll.
„Wir sind ja schon weg“, baue ich mich ein und packe den Arm meines Bruders, um ihn zur Treppe zu ziehen. „Es wird schon dunkel. Ich war den ganzen Tag nicht bei Ty.“
„Ty? Tyree?“, kommt es von hinter uns und der Zwerg starrt uns mit offenem Mund an, als wir uns ihm abermals zuwenden.
„Kennst du sie?“, will Bent sofort wissen und sein Blick fliegt kurz zu mir.
„Natürlich kenne ich sie! Sie lebt?“, sagt und fragt der Zwerg zeitgleich.
„Ja. Bei uns“, erklärt Bent und klingt verwirrt.
Ich drängle mich an ihm vorbei und stehe schon wieder vor dem Zwerg. „Du kennst sie auch!“, halte ich fest. „Oh allen Göttern sei dank!“ Ich sinke auf die Knie und bin jetzt fast auf Augenhöhe mit ihm. „Bitte komm mit uns und hilf ihr!“, höre ich mich selbst flehen.
Die Augen des Zwergs werden noch größer, dann schaut er zu Bent. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“
„Nicht wir“, antwortet mein Bruder. „Aber sie braucht dringend Hilfe und wir kommen nicht an sie ran. Wir suchen schon den ganzen Tag jemanden, dem sie vertrauen würde.“
„Wo ist sie?“, fragt der kleine Mann und klingt entschlossen.
„Bei uns. Im Anwesen.“
Wieder wird sein Gesicht finster. „Ihr habt sie verschleppt!“
„Nein. Wir wollten ihr helfen. En wollte das. Aber jetzt ist was passiert und auch er kann nichts für sie tun. Würdest du uns helfen, ihr zu helfen?“
Für einen Moment taxiert er Bent nur, dann endlich sagt er: „Natürlich helfe ich ihr .“ Wobei er betont, dass er Ty hilft, nicht uns.
„Danke“, kann ich nur flüstern, weil die Erleichterung mich einfängt. Wir haben jemanden gefunden, der helfen kann und will. Dem Himmel sei dank!
Der Zwerg, Zeez, ist der Zugführer und da alle seine Gäste sowieso weg sind, lässt er sein Gefährt für heute und für Tyree stehen. Nachdem wir ihm kurz erklärt haben, was genau passiert ist, drängt er jedoch darauf, auch seine Frau mitzunehmen. Sie hat, eben als Frau, wohl einen besseren Draht zu Ty.
Es ist schon dunkel, als wir endlich wieder im Anwesen sind. Dadurch kommen wir aber ungesehen bis in meine Räume. Myra, Zeez’ Frau, eilt sofort in Tys Zimmer und verschließt die Tür hinter sich. Selbst wenn ich wollte, würde ich nicht reinkommen, ohne die Tür zu zerschlagen, denn die Zwergin hat den Schlüssel mitgenommen und von innen verriegelt. So bleibt uns anderen nichts weiter übrig, als zu warten.
Cara hat nichts zu berichten, was mir schon klar war. Was sollte sich auch ändern, in nicht mal 12 Stunden. Also hocken wir alle schweigend in meinem Zimmer verteilt und warten darauf, dass sich bei Ty was tut.
Nach einer kleinen Ewigkeit geht die Tür wieder auf und Myra winkt Cara wortlos zu sich. Meine kleine Schwester steht auf und verschwindet ebenfalls im Zimmer. Wieder wird die Tür verriegelt und diesmal bleibt sie noch länger zu.
„Ich will da rein!“, höre ich mich nach einer weiteren Ewigkeit knurren.
„Bald“, kommt es beruhigend von Bent.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie dich noch an sich ran lässt, Elf“, brummt Zeez. „Ihr habt ihr das angetan!“
„Ich wollte ihr helfen!“
„Das hast du aber nicht!“ Er steht auf und kommt auf mich zu. „Du hast sie hierher gebracht und den Hunden zum Fraß vorgeworfen, du arroganter Vollpfosten! Nicht einen Gedanken hast du daran verschwendet, dass es ihr schaden könnte!“
„Ich hab sie vor dem Tod bewahrt!“
„Du hast sie quasi umgebracht!“
Stille. Darauf kann ich nichts erwidern, denn er hat recht. Sicher wollte ich ihr helfen und sicher habe ich das bis zu einem gewissen Punkt getan und dann habe ich aufgehört. Ich habe sie allein in der Bibliothek sitzen lassen. Ich hätte sie genauso gut auch mit zum Training nehmen können. Aber ich habe sie allein gelassen. In diesem Haus. Ich hätte es ahnen müssen.
Meine Augen beginnen zu brennen und ich wende kurz den Blick ab. „Es tut mir leid“, flüstere ich. Mein Blick trifft Zeez wieder und ich sehe seinen milde werden.
„Immerhin hilfst du ihr jetzt.“
„Ich tue gar nichts. Ich kann nicht! Sie will nicht, dass ich ihr helfe.“
Seine Hand legt sich auf meinen Unterarm und er drückt erstaunlich fest zu. „Du hast ihr geholfen, weil du uns gesucht hast.“
Ich nicke nur, kann die Aufmunterung aber nicht wirklich annehmen.
Irgendwann mitten in der Nacht geht die Tür endlich wieder auf und die Frauen kommen raus. Sofort bin ich bei den beiden und sehe Cara erleichtert lächeln.
„Sie schläft. Wir konnten sie baden und umziehen und ihre Wunde versorgen. Sie hat was von dem Saft genommen. Aber ich habe die Salbe weggelassen“, erklärt sie und ich nicke.
„Danke“, hauche ich und schaue dann Myra an. Abermals sinke ich auf die Knie und senke den Kopf. „Danke.“
Ihre kleine Hand legt sich auf meine Schulter. „Gib ihr Zeit“, meint die Zwergin und ich sehe Mitgefühl in ihrem Blick, als ich aufschaue. „Sie hat viel durchgemacht. Dränge sie nicht.“
„Werde ich nicht. Kann ich rein?“
Sie lächelt amüsiert. „Bleib besser erst mal hier.“ Sie wirft einen Blick zur Tür und sieht dann wieder mich an. Ihr Ausdruck wird nachdenklich. „Ich weiß nicht, was besser ist. Wenn sie allein ist oder wenn jemand auf sie aufpasst.“
An ihrem Tonfall merke ich, dass etwas nicht stimmt. „Was ist los?“, will ich wissen und schaue zu Cara auf.
Sie antwortet unsicher: „Ty wollte ... sie hat ... Gott, En. Ich kann’s verstehen.“
„Was?“, hauche ich nur und jetzt steht auch Bent auf und kommt rüber.
„Der Teller mit dem Essen war zerbrochen und die Scherben ...“
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