Michel ging in seiner Zelle auf und ab.
Ojo lag auf der hölzernen Pritsche und schnarchte markerschütternd. Ihn brachte so leicht nichts mehr aus der Ruhe. Zu viel hatte er schon in Gesellschaft des deutschen Doktors erlebt. Sein Vertrauen zum Glück des Pfeifers war grenzenlos.
Michel hingegen hatte diesmal das Vertrauen zu sich selbst weitgehend eingebüßt. Die augenblickliche Umgebung kam ihm düsterer vor als alle Verliese, in denen er bisher gesessen hatte. Hier aus eigener Kraft herauszukommen, war hoffnungslos. Es tröstete ihn zwar, daß Hammuda Pascha sich nach wie vor um ihn kümmerte und sich für seine Freiheit einsetzte; aber er glaubte nicht an einen Erfolg. Der Bej schien ein dickköpfiger, hartherziger Kerl zu sein, der sich von niemandem beraten ließ.
Michel hatte jeden Quadratzentimeter seiner Zelle durchforscht. Es war ein altes, aus fugenlosem Felsgestein erbautes Gemäuer, in dem es keine Geheimgänge oder lockere Wandteile gab, die sich herausbrechen ließen.
Ojo rekelte sich und erwachte.»Du hast einen gesunden Schlaf, Diaz.«
»Si, si, Senor Doktor. Was nützt es mir, wenn ich wache und doch keinen Ausweg finde? Man muß Kraft sammeln, solange man noch dazu in der Lage ist. Der tiefe Schlaf ist das beste Mittel dafür.«
Ein Schlüssel knarrte in der Zellentür. Der Lauf einer Reiterpistole wurde sichtbar. Dann schob sich eine Hand in den Raum, deren Zeigefinger am Abzugsbügel lag. Eine Stimme sagte: »Geht an die hintere Wand zurück, ihr Hunde!«
Ojo und Michel gehorchten widerspruchslos. Sie hatten sich an diese Komödie mittlerweile gewöhnt. Die Hand mit der Pistole gehörte dem Wächter, der zweimal täglich das Essen brachte. Die Tür öffnete sich so weit, daß der Mann sichtbar wurde. Mit dem Fuß schob er eine Schüssel in den Raum. Dann folgte eine Kanne Wasser, und dann wurde die Tür eiligst wieder zugeschlagen.
Das Essen war gut wie immer, das Wasser frisch und klar.
Es waren an diesem Tag auffällig viele Leute in der Stadt. Die Einwohner von Tunis, die auf den Märkten und in den Basaren zu tun hatten, wunderten sich über die vielen Gruppen fremder Gesichter, die sich überall gebildet hatten. Es herrschte ein Rummel wie sonst nur an Festtagen. Aber man machte sich weiter keine Gedanken darüber.
Als der Abend hereinbrach, zog sich das fremde Gelichter in der Nähe des Palastes zusammen.
Viele der Unbekannten saßen zu Pferde oder führten ihre Tiere am Zügel mit sich. Sie bildeten auch hier wieder Gruppen und unterhielten sich laut schreiend über Alltäglichkeiten, so daß ihre Gespräche bei dem Posten am Tor keine besondere Aufmerksamkeit erregten.
Der Torwächter machte zwanzig Schritte hin, zwanzig Schritte her und wieder zwanzig Schritte hin — wie jeden Tag. Eigentlich war allesso wie immer. Plötzlich verstummte das Geschrei der Fremden. Sie richteten ihre Blicke gen Himmel, als erwarteten sie einen Kometen.
Die letzten Schatten der Dämmerung sanken in die schwarze Nacht. Hell und strahlend stand die runde Scheibe des Mondes am Himmel.
Da brach aus einer Gasse, die der Pforte des Palastes gegenüberlag, eine Reiterschar mit geschwungenen Krummsäbeln hervor und stürmte, den Posten überreitend, durch das Tor in den Palasthof.
Die Fremden saßen plötzlich alle zu Pferde und schlossen sich der Reitergruppe an. Einer der Posten, der innerhalb der Mauern seine Runden ging, raste wie ein Besessener zur Wachstube und schrie dem wachhabenden Offizier zu: »Alarm! Alarm! Ein Räuberheer überfällt den Palast!«
»Das sind keine Räuber«, sagte der Offizier der Leibwache, der von Aisad eingeweiht war. »Laßt sie gewähren.«
Aber der wachhabende Kommandant hatte die Rechnung ohne seinen Adjutanten gemacht. Dieser war ein blutjunger, tapferer Fanatiker, der den Bej und den »Kronprinzen« verehrte, da sie ihm überhaupt erst die Möglichkeit gegeben hatten, zum Offizier zu avancieren.Er stellte sich vor den Kommandeur und rief mit zornrotem Gesicht:
»Wie kannst du den Palast einer Räuberbande überlassen! Sie werden den Bej umbringen, zu dessen Schutz wir da sind!«
Der Kommandeur runzelte die Stirn.
»Sprich nicht in einem solchen Ton mit mir, Selim. Wir Älteren und Erfahrenen wissen, daß heute nacht die Tyrannei beendet wird. Der Bej wird gestürzt. Die Stürmenden sind keine Räuber, sondern Revolutionäre. Respektiere sie und schweige.« Selim aber dachte nicht daran.
»Verrat!« schrie er laut und rannte aus der Wachstube.
»Fangt ihn ein!« befahl der Kommandeur seinen Soldaten. »Er darf nicht zum Bej kommen.«
Aber Selim war ein schneller Läufer. Der Mut der Verzweiflung verlieh ihm Flügel. Die Soldaten konnten seiner nicht habhaft werden.
Gespenstisch hallten seine Rufe in den Mauern des Palastes wider.
»Verrat! Verrat! Greift zu den Waffen, ihr Männer! Verteidigt das Leben des Bej!«
Unter diesen Rufen gelangte er in den inneren Palast, in dem die Hampers schliefen. Die Hampers bildeten den Kern der größeren Leibwache. Sie waren nicht nur auf den Islam, sondern auf den Bej persönlich verschworen.
Sie fuhren aus dem Schlaf hoch und stürmten in die Gänge. Einer erblickte die Gestalt des jungen Offiziers Selim.
»Was gibt es, was soll dein Geschrei?«
Selim berichtete in hastigen Worten, was er wußte.
Von draußen drang jetzt Waffenlärm und Kriegsgeschrei bis hierher.
Einer der Hampers zerrte Selim bis in die Privatgemächer der Herrscherfamilie. Vor dem Schlafraum des Bej standen Wachen und kreuzten die Hellebarden. Selim schlug sie auseinander und stürmte hinein. Ohne die üblichen Verbeugungen berichtete er dem Bej die erschreckende Neuigkeit.
Der fette Tyrann saß auf einem marokkanischen Kissen und zitterte am ganzen Leibe. »Wir müssen uns verteidigen, erhabener Bej! Es herrscht eine Verschwörung zwischen den Revolutionären und Teilen der Polizei. Der Kommandeur sagte, man hätte es auf dein Leben abgesehen.«
»Auf — auf — auf mei — mein Leben. Warum? — Weshalb? — Das kann doch nicht sein. — Sie können doch nicht... «
Der Herrscher der Gläubigen von Ifrikija hatte seine Fassung verloren. Mühsam richtete er sich auf und wies mit zitternder Hand auf einen Gong, der den Durchmesser eines großen Wagenrades hatte.
»Da! Schlag den Gong! Vielleicht kommt jemand zu meiner Verteidigung.« Selim riß den Klöppel von der Wand, faßte ihn mit beiden Händen und schlug wie besessen auf die dröhnende Metallplatte. Wie Kanonenschüsse donnerten die Schläge durch den Palast. Als erster erschien Hammuda Pascha. Selim gab ihm Auskunft über die Vorgänge draußen. Hammuda Paschas dunkle Augen sprühten Feuer. Mit nerviger Faust riß er seinen Säbel aus der Scheide und schrie:
»Auf, Selim, verteidigen wir uns! Hundert sollen fallen von meiner Hand, bevor sie uns den Garaus machen!«
Er wollte zur Tür hinaus, fand den Eingang aber durch die hereindrängenden Hampers versperrt. Die rasenden Gongschläge hatten die Leibwache auf die Beine gebracht. Als der Bej seiner Getreuen ansichtig wurde, hob sich sein Mut zusehends. Es sollte den Meuternden und den Aufständischen nicht leicht werden, diese fanatische Leibwache zu besiegen, obwohl sie kaum hundertfünf-zig Mann stark war.
Hammuda Pascha übernahm sofort den Befehl. »Freunde«, rief er, »Verschwörer und Verräter wollen euch den Herrscher nehmen! Zieht eure Säbel! Sie sollen in ihrem Blut schwimmen, die Hunde, die Allah verderben möge!«
An der Spitze der Leibwache eilte er dem sich nahenden Lärm entgegen. Im Hauptgang des Palastes stieß er auf Aladins Männer.
Eine Stimme schlug ihm ans Ohr, die ihn für einen Augenblick auf der Stelle bannte. »Schlagt sie tot! Dort steht der Bastard des Bej, der sich Pascha nennt. Vernichtet die Brut des dicken Fettwanstes!« Die Stimme gehörte — — — Aisad.
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