Weidmann nimmt die Hände hoch und sieht deren Abdruck auf der Tischplatte beim Verschwinden zu. Wie? Er hat sich das schon dort hinter der Yucca-Palme gefragt, als er Karin Preiss aus den hinteren Räumen kommen und verwirrt am Träger ihres Kleides nesteln sah. Und nachdem auch die zweite Bergenstädterin aus der Tür verschwunden war, hat er zu Viktoria nicht mehr gesagt als ›Schreib mir nicht mehr!‹ und ist ebenfalls gegangen.
Mit einem Ruck steht er auf und öffnet die Tür, aber aus dem leeren Flur glotzt ihm nur das formlose Schimmern des Deckenlichts in den Bodenkacheln entgegen. Zurück am Fenster, glaubt er die Frontpartie des Polo zwischen den Bäumen ausmachen zu können. Soll er nach draußen gehen und sie heraufbitten? Genau genommen weiß er nämlich sehr gut, wie er ihr helfen kann, und kennt in- und auswendig die Worte, die dazu nötig sind, schließlich hat er sie die ganze Woche in jeder freien Minute vor sich hin gemurmelt. Sie würden ihm auch keine Verstellung abverlangen, er versteht wirklich , was in ihr vorgeht. Das Seltsame ist: Er weiß nicht, ob er ihr gegenüber zu dieser Nicht-Verstellung fähig ist. Über Jahre hinweg hat er die Fähigkeit perfektioniert, sich nicht zu verlieben, sondern neugierig zu sein. Aufmerksam, sprungbereit und unsentimental. Ohne Stolz übrigens und mit nicht mehr Jagdinstinkt als unbedingt nötig, aber so wie alle Männer ist er davon ausgegangen, dass die Weinkellerkönigin seiner einsamen Phantasien, falls sie ihm eines Tages begegnen sollte, von der Art sein und ihn auf die Art packen würde, die das Spiel verlangt: Eine Gespielin, die ihm das süße Gift ihrer Reize einflößt und mit einem Lächeln zusieht, wie es seine Wirkung entfaltet. Eine Frau, die so ist, wie diese Viktoria glaubt zu sein. Mit anderen Worten, er hat den Reiz des Spiels gerade darin gesehen, dass es in einem eng begrenzten Feld ausgetragen wird und von der Gefahr der Übertretung durchsetzt ist. Aber diese Grenze hat er vor sich vermutet, eine sichtbare oder zumindest instinktiv wahrnehmbare Linie; so dass er, was jetzt geschehen ist, nur als Überrumpelung empfinden kann.
Warum sie? Seit einigen Tagen beobachtet er sich dabei, wie er seinem Badezimmerspiegel Fragen stellt, die nur einem Trottel einfallen.
Weil sie eine attraktive, kluge und auf ihre Weise lebenslustige Frau ist — und Antworten zu geben, für die nur ein Volltrottel sich nicht schämen würde.
All die Jahre hat er sich eingeredet, ein Spieler zu sein, und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: die Veilchen waren Spiel, weiter nichts. Und jetzt sieht er zu, wie Kerstin Werner ihm diese Schlinge um den Hals legt, als ob er vorhätte, auf seine alten Tage zum Kleinstadt-Kantianer zu mutieren: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer langweiligen Ehe gelten könne.
Lächerlich, ja. Aber die Frage lautet: Hat sie ihn überrumpelt oder hat er die ganze Zeit über mit demütig gesenktem Kopf dagestanden und nur auf die Schlinge gewartet?
Als es an der Tür klopft, erschrickt er nicht, sondern nickt in das leere Klassenzimmer, als stünden darin Zuschauer in Erwartung einer Darbietung. Wahrscheinlich ist sie über den hinteren Schulhof gegangen. Was immer sie von ihm will, sie geht umsichtig vor. Und er lehnt mit verschränkten Armen an der Fensterbank und sagt nicht Herein, sondern starrt stumm Richtung Tür. Schicksal ist eines dieser Worte, die sich gut denken lassen, wenn alles zu spät ist. Die dann plötzlich versöhnlich klingen, als würde jeder Abgrund in dem Moment dein Freund, da du darin verschwindest.
Granitzny steckt seinen Elefantenkopf durch den Türspalt, dreht ihn nach links und rechts, bevor er Weidmann entdeckt und sagt:
«Zwei.«
«Zwei was?«Er ist überrascht, wie ungerührt seine Stimme klingt. Nur in den Armbeugen fühlt er Schweiß durch sein Hemd sickern.
«Mohikaner. Sie und ich. Sonst ist keiner mehr da.«
«Es kam mir die ganze Zeit schon verdächtig ruhig vor.«
«Alle weg.«
«Sie sind aber, wenn ich das sagen darf, zu klug und kennen Ihre Pappenheimer zu gut, um das nicht erwartet zu haben.«
«Ein Lob aus berufenem Munde. «Granitzny kommt herein und nimmt auf einem Tisch in der ersten Reihe Platz. Die Hände stützt er neben sich ab, als fürchte er, dass andernfalls die Platte in der Mitte nachgeben könnte. Sein Gesicht lässt in der Tat keine Überraschung erkennen, sondern ein heimliches Vergnügen, als hätte er jemandem einen Streich gespielt, der das aber noch nicht weiß.
«Worauf warten Sie noch?«, fragt er.»Mögen Sie kein Fußball?«
«Das Ende schau ich mir zu Hause an.«
Dann schweigen sie einen Moment. Granitzny sieht zur Tafel, und Weidmann glaubt zwischen den Blättern der Bäume einen Ellbogen im Seitenfenster des Polo zu sehen, aber sicher ist er sich nicht. Auch nicht, ob er hofft oder fürchtet, ihr beim Verlassen des Gebäudes zu begegnen. Vorerst ist er nicht unfroh über die Gesellschaft des Schulleiters, der wie ein gelangweiltes Kind auf dem Tisch sitzt und die Backen hängen lässt. Seine Waden sind zu massiv, als dass man die Bewegung seiner Beine als baumeln bezeichnen könnte.
«Ende des nächsten Schuljahres brauchen wir einen neuen Stellvertretenden Schulleiter.«
«Und?«
«Und — Interesse?«
«Nein.«
«Hab ich mir gedacht. «Granitzny nimmt ein Exemplar des Petit Prince in die Hand, das ein Schüler unter dem Pult vergessen hat. Zum ersten Mal, soweit er sich erinnern kann, empfindet Weidmann nicht nur den Gesichtsausdruck, sondern die gesamte Körperhaltung des Rektors als Abbild einer seltsam profunden, über alle Trostversuche erhabenen Traurigkeit.»On ne sait jamais oder so ähnlich sagt der Kerl hier immer, richtig?«
«Ich habe wirklich kein Interesse an dem Amt.«
«Und das Fußballspiel? Ich hab einen Fernseher in mein Büro gestellt.«
«Sie interessieren sich für Fußball?«
«Nein. Aber diese WM ist ein gesellschaftliches Ereignis, ein nationaler Grenzgang sozusagen. Man interessiert sich nicht dafür, man ist einfach dabei.«
«Verstehe.«
Granitznys Blick folgt ihm, als er zum Pult geht und beginnt, seine Sachen zusammenzupacken.
«Haben Sie in Ihrem Büro auch was zu trinken?«
«Cognac.«
Er denkt an Kerstin Werner unten im Auto und hat das dringende Bedürfnis, sich der stummen Aufforderung, die von ihrer Anwesenheit ausgeht, zu widersetzen. Es ist kein Spiel diesmal, und es lässt sich auch nicht zu einem machen, aber das heißt nicht, dass er aufhören sollte, überlegt und selbstbestimmt zu handeln. Man kann auch ein Nicht-Spiel verlieren. Und dieser selbstlosen Zärtlichkeit, mit der er seit einer Woche an sie denkt, einfach nachzugeben erscheint ihm einen luziden Moment lang als der direkte Weg in etwas, woraus er schnell mit einem Gefühl tiefer Reue erwachen wird.
«Warum verbringen Sie eigentlich Ihr halbes Leben in der Schule?«, fragt er.»Ich rede jetzt nicht von der Arbeit, sondern von all den Wochenenden und dem Liegestuhl in Ihrem Büro und dem Cognac und …«
«Warum verbringen Sie Ihr halbes Leben in Bergenstadt?«, fällt Granitzny ihm ins Wort, nicht schneidend, sondern so bedächtig, als wische er eine dumme Schülerzeichnung von der Tafel, ohne sich um das Gekritzel zu scheren.
Weidmann nickt. Es tut immer gut zu spüren, wenn der eigene Unwille, sich und sein Leben zu erklären, auf Gegenseitigkeit beruht. Er lässt den letzten Stoß Notizen in seiner Schultasche verschwinden; die Ledertasche, die Konstanze ihm zur Promotion geschenkt hat.
«Ist es denn guter Cognac?«
«Es ist das, was man hier in der Gegend bekommt. Reicht Ihnen das?«
«Unbedingt«, sagt er und nimmt die Tasche unter den Arm. Der Trageriemen ist vor drei oder vier Jahren gerissen und seitdem nimmt er sich vor, ihn erneuern zu lassen, obwohl er genau weiß, dass er nicht an der Tasche, sondern an ihrer Kaputtheit hängt.»Alles andere wäre viel zu viel.«
Читать дальше