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Stephan Heinrich Nolte, geb. 1955, Dr. med., ist seit 30 Jahren als Kinder- und Jugendarzt in Marburg niedergelassen. Nach seiner Facharztausbildung war er Oberarzt in Marburg und trägt mittlerweile die Zusatzbezeichnungen Neonatologie, Psychotherapie, Homöopathie und Palliativmedizin. Neben Lehraufträgen an der Universität Marburg ist er auch als Fachjournalist, Kolumnist und Buchautor tätig.
Stephan Heinrich Nolte
Reflexionen zu ärztlichem Wirken heute
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Projektkoordination und Lektorat: Simone Holz, Pisa, www.lektorat-redazione-holz.eu/
Satz und Gestaltung: Martin Vollnhals, Neustadt an der Donau
Umschlagabbildung: © Yuuji/istockphoto
Umschlagbearbeitung: Franziska Brugger, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-86321-620-7
eISBN: 978-3-86321-586-6
Alle Rechte vorbehalten
Vorwort
Kapitel 1: Heilen oder Heiler
Heilen ist nicht Handeln: Die medizinische Ethik nach Childress und Beauchamps
Was wirkt?
Die Lebenskraft, die Seele und der Körper
Die Causa: Die Frage nach dem „Warum“
Spontanheilungen/Spontanremissionen
Defensivmedizin
Unsinn Vorsorgemedizin?
Patienten
Ärzte
Kapitel 2: Heilungshindernisse
Pathogenese oder Salutogenese?
Systematik der Heilungshindernisse
Grenzen der Nicht-Behandlung
Dynamisches versus statisches Krankheitsverständnis
Kapitel 3: Die Heilindustrie: Schlaglichter auf unser Gesundheitswesen
Der Staat und die Gesundheit
Regel- oder Maximalversorgung
Soll ich mich / mein Kind privat versichern lassen?
Wenn die Behandlung zu Ende geht: Was geschieht mit Behandlungsunterlagen, der Patientenakte?
Kapitel 4: Empört Euch!
Die Sprache der Medizin: Der „Zugang“, die „Werte“ und die „personalisierte Medizin“
„Ver-Sorgen“ oder to care : Falsch oder richtig sorgen?
Gesunde „knocken“ – denn es sind Kranke, die nur noch nicht wissen, dass sie krank sind
Ivan Illich und die Iatrogenese
Interessenkonflikte: Was beeinflusst eine medizinische Entscheidung?
Privatisierung und Computermedizin
Kapitel 5: Medizin im Kontext: Placebo oder Nocebo?
Das Wirksame des Unwirksamen
Reichhaltige Belege aus der Fachliteratur
Placebo by Proxy
Therapien sind oft gesellschaftlicher Konsens
Auch der Arzt gehört zu den „Stellvertretern“
Schadet oder hilft Aufklärung?
Nicht nur Masern sind ansteckend, auch Vorstellungen und Ängste
Du sollst dir kein Bild machen – oder doch?
Heilung in Bildern – am Beispiel der Homöopathie
Die Kontextfaktoren sind entscheidend
Wirkung oder Wirksamkeit
„Intelligente“ Placebos – man hat sich was dabei gedacht
Lehren aus Auschwitz: Zuwendung und Trost helfen immer
Nicht Gesundheit, sondern „medizinische Versorgung“ ist teuer!
Kapitel 6: „Un-Heil“ – Wie Corona den Gesundheitsbegriff verändert
Von der Epidemie zur Endemie bis zur Eradikation
Macht anlassloses Testen Sinn?
Der Erreger ist nicht die Krankheit
Weg mit den Handschuhen
Gesündere Kinder?
Wer ist gesund?
„Verschleppte Krankheit“
Das tägliche Spiel: Die „Neuinfektionen“
Coronazahlen zu Kindern in Deutschland
Was tun wir der nachwachsenden Generation an?
Die Methode, eine Gesundheitsdiktatur: Von der Dystopie zur Zustandsbeschreibung
Coronoia oder Rhinozeritis?
Nachbemerkung: Etwas Tröstliches zum Schluss
Bibliografie
Behandeln und Heilen werden oft verwechselt. Ein Arzt 1kann zwar behandeln, aber nicht heilen. Er kann Voraussetzungen zum Heilen schaffen, indem er Heilungshindernisse erkennt und behandelt, er kann aber auch Heilung behindern und unwissentlich Selbstheilungsprozesse stören. Was Ärzte üblicherweise leisten, ist, Symptome zu lindern. Sie tragen zur Erleichterung bei mit dem Ziel, Schlimmeres zu verhüten; sie unterstützen etwa beim Senken des Blutdrucks, um einen Schlaganfall zu verhindern. Den Blutdruck „heilen“ können sie nicht, aber Voraussetzungen zur Selbstheilung schaffen: Diäten, Bewegungsförderung, Stressreduktion, Raucherentwöhnung etc. Wir alle wissen, wie hilflos und rudimentär diese essenziellen Maßnahmen bleiben, und wie viel leichter es ist, zu einer Pille zu greifen. Mit Heilen hat das indes wenig zu tun, wohl aber mit Behandlung. Der Arzt kann einen Knochenbruch behandeln, indem er ihn gut einrichtet, fixiert und dann – die Heilung abwartet, auf die er wenig Einfluss hat. Er hat die Voraussetzungen geschaffen und wird versuchen, sie durch Ruhigstellung zu erhalten, aber das Heilen muss er unbekannten Heilkräften im Körper überlassen, und er kann allenfalls staunend feststellen, dass ein Bruch trotz bester Voraussetzungen auch mal nicht heilen will.
Im Nationalsozialismus hatten jüdische Ärzte nicht mehr das Recht, sich Ärzte zu nennen, sondern wurden zu sogenannten Krankenbehandlern degradiert. Was waren denn die „arischen“ Kollegen anders als ebenfalls Krankenbehandler? Der Nimbus des Arztes, der den jüdischen Kollegen nicht mehr zugestanden wurde, steht über dem reinen Behandeln. Ist das gerechtfertigt? Ja und nein. Ja, denn die ärztliche Tätigkeit besteht aus mehr als aus Behandeln, Handeln. Sie sollte auch aus Zuhören, Klären, Begleiten, Verstehen bestehen, also über den reinen Aktionismus herausgehen. Die Praxis sieht anders aus; das Tun, das Handeln, das Erbringen von Leistungen. Im Jargon der ärztlichen Selbstverwaltung und der Krankenkassen sind Ärzte „Leistungserbringer“. Das ist noch ein schlimmerer Ausdruck als Krankenbehandler, der aber in seinem Zynismus nicht hinterfragt wird. Leistung, das ist ein technischer Begriff: Arbeit pro Zeit, und am besten messbar an objektivierbaren Maßnahmen oder Eingriffen. Da technische Leistungen besser messbar sind als menschliche Beziehungen und die Qualität von „Gesprächs-Leistungen“ (auch hier taucht der Begriff auf), haben diese in der Medizin ein gewaltiges Übergewicht bekommen, von dem ein ganzer Wirtschaftszweig profitiert, der medizinisch-industrielle Komplex, auch Gesundheitswirtschaft oder -industrie genannt. Wir haben heute gewaltige technische Möglichkeiten, zu untersuchen, zu behandeln, und sind in der Diagnostik wesentlich weiter als in der Therapie. Aber ob wir damit bessere Heiler geworden sind? Den Menschen interessiert nicht so sehr, was er hat, sondern wie es ihm geht und was werden wird, nicht die Diagnose, sondern die Prognose.
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