Zwei Sekunden braucht er, um seinen Tonfall auf Mitgefühl und Schonung zu stellen.
«Das tut mir leid zu hören. Was hat sie?«
Sie erzählt es ihm in wenigen Worten, während sie den Hausmeister mit schlurfenden Schritten über den Schulhof gehen sieht. Es tut nicht gut zu wissen, dass es guttut, mit ihm zu sprechen, aber was soll sie machen? Daniel hat sich die ganze Woche nicht sonderlich interessiert für den Gesundheitszustand seiner Großmutter, und mit Karin Preiss wollte sie nicht sprechen. Auf die ist sie sauer. Sie einfach in diesen verdammten Club zu schleppen!
Halb sechs zeigt die Uhr am Armaturenbrett. Die Sonne nähert sich allmählich den Baumspitzen über dem Rehsteig.
«Mit anderen Worten: Es sieht nicht gut aus«, sagt sie. Der Hausmeister hat die Eingangstüren erreicht und tritt mit der Ferse auf die Stopper am Boden. So viel zum Thema Elternsprechtag.
«Wär’s in so einem Fall nicht besser, sie nach Marburg zu geben? Wenn die Ärzte in Bergenstadt nichts rausfinden.«
«Sie wollen noch ein anderes CT machen. Wegen der Kopfschmerzen.«
«Ist deine Mutter privat versichert?«
«Nein.«
«Trotzdem könntest du …«
«Jürgen, vielen Dank, aber ich komme zurecht. Außerdem ist Hans ja auch noch da.«
«Hans«, sagt er, und sie weiß, welches Gesicht er dabei macht. Eine merkwürdige Reminiszenz an vergangene Zeiten, als sie noch gemeinsam den Kopf geschüttelt haben über ihren unmöglichen Bruder. Viel zu spät hat sie gemerkt, wie sehr die beiden einander ähneln.
«Ich hab wegen Daniel angerufen, nicht wegen meiner Mutter.«
«Weiß nicht genau, was ich dir dazu noch sagen soll.«
«Ja. Ich weiß auch nicht genau, was ich hören will. Haben wir ihn verkorkst?«
«Er ist nicht verkorkst, er ist sechzehn. Und er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat.«
«Ich hab keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Was er fühlt, worüber er nachdenkt. Ich meine, weil du vorhin von transparent gesprochen hast.«
«Er wird die Kurve schon kriegen. «Jemand würde gerne weiter Fußball schauen. Wahrscheinlich trommelt neben ihm Andrea mit den Fingern auf die Armlehnen.
«Bist du dir eigentlich transparent?«Sie ist zu spät gekommen und kann jetzt nur noch blöde Fragen stellen. Statt die Dinge in die Hand zu nehmen, solange sie noch im Fluss sind, wartet sie ängstlich ab, bis alles vorbei ist, und räumt dann die Trümmer beiseite. Sie hat ihren Exmann nicht angerufen, um sich auf die Begegnung mit Thomas Weidmann vorzubereiten, sondern um dieser ein weiteres Mal aus dem Weg zu gehen. Weil offenbar alle Schritte, die sie tut, vor allem dazu da sind, die Schritte zu unterlassen, die sie tun müsste.
«Ich wusste, dass du darauf anspringen würdest«, sagt Jürgen.
Gerne hätte sie ihn gefragt, ob ihm gar nicht bange ist bei dem Gedanken, in seinem Alter noch einmal Vater zu werden. Stattdessen sagt sie» Schon gut «und beendet das Gespräch. Sechs Minuten und siebenunddreißig Sekunden hat es gedauert, vermeldet ihr Handy gewohnt zuverlässig.
«Beide Mannschaften schenken sich nichts«, knurrt der Reporter grimmig, als sie das Radio wieder einschaltet und den Motor startet. Im Vorbeifahren glaubt sie im Büro des Schulleiters das bläuliche Flackern eines TV-Geräts zu erkennen. Dann fährt sie durch einen leergefegten Ort auf die Umgehungsstraße Richtung Arnau. Sobald ihr Wagen beschleunigt, fühlt sie sich besser, mit offenen Seitenfenstern und Fahrtwind im Haar. In den Lahnwiesen stehen Obstbäume. Aus den Zeitansagen des Reporters schließt sie, dass während des Telefonats die Argentinier in Führung gegangen sind, aber die Männer von Jürgen Klinsmann geben nicht auf, sondern grätschen, rennen und stürmen an gegen» das Abwehrbollwerk der Südamerikaner«. Wenn bloß diese Gauchos sich nicht so wehren würden!
Sie kennt das Muster ihrer Gefühle, es hat jeden Tag der vergangenen Woche bestimmt: Sorge, Scham, Tränen und dazwischen diese unwirkliche Erleichterung, zum Beispiel wenn sie aus dem Geruch des Krankenhauses in einen weiteren sonnenverwöhnten Abend tritt. Morgen wird sie ans Bett ihrer Mutter zurückkehren und versuchen, sie zu Gesprächen zu animieren, wird fragen, ob sie Durst hat, und keine Antwort bekommen — morgen. Einstweilen gibt sie Gas und hat das Gefühl, allen Gedanken an das Krankenhaus und die Begegnung im Club einfach davonfahren zu können.
Ziellos und schnell fährt sie durch den anbrechenden Abend. Einmal die Umgehungsstraße entlang, ihr Tacho zeigt hundertvierzig, und in Berlin wird die Zeit immer knapper. Das Klärwerk von Arnau fliegt vorbei, Bussarde kreisen über den Wiesen, und dann geschieht das Unglaubliche: Genau an der dafür vorgesehenen Stelle überquert ein Ball eine Linie, und die Reaktion ist so heftig, dass sie sich einen Moment lang selbst blockiert. Nur Rauschen kommt aus den Lautsprechern, Ultrakurzwellen überschlagen sich, das Olympiastadion tobt. Kerstin nimmt den Fuß vom Gas, um den Namen des Schützen zu verstehen, aber der besteht aus einem einzigen Vokal, den der begeisterte Reporter in die Länge zieht, bis ihm die Stimme versagt. Indianisches Geheul füllt das Auto. Hinter Arnau endet die Umgehung an der alten Bundesstraße, Kerstin wendet an der Ampel und fährt zurück, während der Reporter wieder und wieder den Hergang des Wunders schildert.
Ausgleich.
Vom Auto aus sieht sie Arnauer Bürger auf ihre Balkone rennen und signalisiert mit einem kurzen Hupen ihre Anteilnahme. Und einen Entschluss: Sie wird Weidmann gegenübertreten, heute noch. Notfalls bei ihm zu Hause. Und sie wird dabei das Kleid tragen, das neben ihr auf dem Beifahrersitz liegt. Was auch immer im Bohème war, er hat ihr Blumen gebracht. Warum haben Sie mir Blumen gebracht, wird sie fragen und keine Ausrede dulden, sondern ihn anschauen, bis er entweder die Hand nach ihr ausstreckt oder die Arme verschränkt.
Bei Karlshütte verlässt sie die Umgehungsstraße und nimmt die Abzweigung Richtung Sackpfeife. Ein Sägewerk, ein Weiher, dann sind es wieder nur Wiesen und Wälder, die sie auf ihrem Weg begleiten. Die ersten Rehe kommen aus dem Unterholz. Sie denkt an ihre Mutter, die im Krankenhaus an die Decke blickt. Woran denkt sie, dort in ihrem Bett? Was geht vor in einem Kopf, der sich allmählich von der Welt verabschiedet? Seit Monaten hat Liese Werner kaum noch von ihrem Mann gesprochen, dem in den ersten Jahren nach seinem Tod noch jede zweite Bemerkung galt. Jetzt kann Kerstin sich weder erinnern, wann der Name ihres Vaters zuletzt gefallen ist, noch, wann sie selbst zuletzt an ihn gedacht hat. Ihre Mutter hat sie früher mit einer einzigen Bemerkung über ihre Frisur oder die Länge ihres Rockes die Wände rauftreiben können, aber ihren Vater erinnert sie als einen sanften, großzügigen Mann, von dem sie nicht zu sagen weiß, was ihn mit ihr verbindet. Sie hat den zur Kleinlichkeit neigenden Charakter ihrer Mutter geerbt, und das ist kein Erbe, auf das sie stolz ist.
«Die deutsche Mannschaft marschiert, aber sie bleibt aufmerksam in der Deckung«, sagt der Reporter. Dieser listige Kerl hat seine Augen überall.
Schneller als erwartet erreicht sie die Abzweigung, wo ein weißer Pfeil zum Skigebiet Sackpfeife zeigt. Früher war sie mit Daniel zum Schlittenfahren dort oben, während Jürgen eine Runde auf der Loipe drehte. Und einmal hat sie die Superrutschbahn ausprobiert und sich vom hinter ihr gestarteten Sohn eine Trödelsuse schimpfen lassen. Nun folgt sie der schmalen Straße, die in serpentinenartigen Kurven hinaufführt, und blickt über die endlose Hügellandschaft, in die sich hier und da ein Dorf nestelt. In immer kürzeren Abständen sagt der Reporter die verbleibende Spielzeit an. Laub- und Nadelwald wechseln einander ab, und sie erinnert sich an den Anblick im Winter, wenn sich zu beiden Seiten der Straße die Schneewälle auftürmen. Dann eine letzte Kurve. Ein leeres Kassenwärterhäuschen steht neben einer offenen Schranke. Links der Frühstücksplatz des ersten Grenzgangstages, eine schattige Senke im Boden.
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