Um das hintere Ende des Zeltes herum ging sie Richtung Lahn. Dixie-Klos standen in einer langen Reihe, quaderförmig und lichtlos, ein paar Frauen warteten davor. Die meisten Männer entschieden sich für das Lahn-Pissoir, standen an der Uferböschung, unterhielten sich durch die Mundwinkel und tasteten, wenn sie fertig waren, nach neben den Schuhen abgestellten Biergläsern. Kleinere Wolken hasteten am Mond vorbei und hinterließen einen bläulichen Schimmer auf dem Festplatz. Während sie mit verschränkten Armen vor einem der Klos wartete, hörte Kerstin die Musik aus beiden Zelten, die sich zu einem unrhythmischen Halbganzen verband, das an ein zu großes Tier in einem zu kleinen Käfig erinnerte. Vom Rummelplatz her drängten sich die Stimmen der Ansager auf, und die Discobeats des Autoskooters passten zum Zischen der Spülvorrichtung in den Klokabinen.
«Ich sach: Ran Alter, die ist heiß wie Frittenfett«, war am Lahnufer das Motto der Stunde, und Kerstin nickte. So einen Vergleich hörte man doch ausgesprochen gerne als Frau.
Sie hatte Lust auf ein Glas kaltes Wasser. Immer noch strömten von der Brücke her neue Besucher Richtung Festgelände. Das Krankenhaus erhob sich dunkel in die Nacht, alle Fenster hinter heruntergelassenen Rollläden verborgen.
«Ach!«Die Tür der Kabine vor ihr hatte sich geöffnet, und Anita stand in der kajütenartigen Öffnung, ein Schatten vor dem matten Licht einer 40-Watt-Birne. Ein Schwall chemischer Zersetzungsmittel kam mit ihr die kleine Stufe herab.
«Selber ach«, sagte Kerstin.»Den ganzen Abend such ich dich schon.«
Anita hatte sich die schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, trug lange Ohrringe und sah ein bisschen nach Piratenbraut aus. Ihre eher kleinen Brüste steckten in einem korsageartigen Oberteil, dessen Schnüre den Eindruck erweckten, als hätten da schon ein paar Hände dran gezogen. Geschminkt war sie kaum. Ihre Augen besaßen diese außergewöhnliche Größe und leuchten selbst im Dämmerlicht des Dixie-Klos in tiefem Blau.
«Wartest du eine Minute?«
«Auf dich auch zwei.«
Im Innern der Kabine waberte noch Anitas Parfüm zwischen den anderen Gerüchen, und während Kerstin versuchte, gleichzeitig die Oberschenkel anzuspannen und flach zu atmen, hörte sie draußen Anita mit jemandem ein paar Worte wechseln. Eine Stimme, die Richtung Zelt ging, und als sie wieder draußen war und tief durchatmete, schüttelte Anita immer noch den Kopf.
«Kerle gibt’s hier.«
Dann standen sie einander gegenüber, und Anita verschränkte die Arme. Der kurze Rock, die hohen Stiefel, ganz geschmackssicher war das nicht, aber es wirkte. Abenteuerlustig, unbekümmert, selbstbewusst. Kerstin hätte gerne erzählt von der kuriosen Begebenheit in ihrem Schlafzimmer, aber sie wollte sich Anitas Kommentar ersparen. Ehe ist der Löschschaum für das Feuer deiner Libido, oder was ihrer Freundin sonst einfallen würde. Bis heute wusste Kerstin nicht, ob sie solche Stammtischklischees ernst meinte oder es einfach genoss sie auszusprechen. Intellektueller Natur war die Eitelkeit ihrer Freundin jedenfalls nicht, und vielleicht war Eitelkeit überhaupt das falsche Wort. In Anitas Abenteuern ahnte sie eine vertrackte, beinahe männliche Form von Ehrgeiz, die die Bereitschaft zu zeitweiliger Selbsterniedrigung mit einschloss. Hauptsache, sie bekam am Ende, was sie wollte. Oder anders gesagt: Anita war frei von der Vorstellung, einen Teil ihres innersten Selbst bewahren und rein halten zu müssen, um ihn eines Tages jemandem anzuvertrauen, der wusste, welchen Schatz er da bekam. Verschenk dich, solange sie noch Schlange stehen, lautete ihr Motto.
«Schätzchen, was guckst du so?«Eine angriffslustige Trunkenheit schwang in Anitas Stimme mit. Sie versuchte, ihren Zigarettenrauch Kerstin ins Gesicht zu blasen, aber der Wind kam dazwischen.
«Du siehst so unseriös aus, das stört meinen Mutterinstinkt.«
Anita blickte an sich herab.
«Ich finde, ich sehe aus wie eine geschmackvoll verzierte Einladung. Du hingegen …«, hob sie drohend an.
«Bitte auf die Kürze meines Rockes zu achten.«
«Du siehst … nein, siehst du nicht. Du siehst fabelhaft aus. Wäre ich ein Mann, ich würde deinen abknallen.«
Wieder sahen sie einander einen Moment lang stumm an und warteten, dass sich der Rauch von Anitas aggressivem Kompliment verzog. Bemerkungen flogen hin und her am dämmrigen Lahnufer, eine dichte Wolke aus Musik schwebte über dem Festgelände.
«Aber ich werd’s dir trotzdem nicht verzeihen, dass du mich in Köln hast sitzenlassen«, sagte Anita.
«Ich dich?«
«Du mich. «Sie sah weder beleidigt noch verletzt aus, zog an ihrer Zigarette und atmete langsam aus.»So sind die Fakten. Was glaubst du, wie viele Freundinnen wie dich ich da noch habe?«
«Wieso sagst du das plötzlich?«
«Weil du mich seit drei Tagen anguckst, als wäre was nicht in Ordnung. Und als wäre das allein meine Schuld.«
«Was glaubst du, wie viele Freundinnen wie dich ich hier habe?«
«Keine. Und weißt du was: Du wirst auch nie eine haben. So eine wie mich gab’s hier zuletzt einen Tag bevor ich weggezogen bin.«
«So sind die Fakten, hm?«
«Ich will bloß nicht, dass sich zwischen uns was ändert. «Der Wind wehte ihr eine Strähne über die Augen.
Kerstin hatte plötzlich einen Kloß im Hals, reckte mit gespitzten Lippen den Kopf nach vorne und ließ sich von Anita die Zigarette geben. Wie immer war der Filter feucht. Sie hatte lange nicht geraucht und spürte den Zug wie ein leichtes Klopfen in der Kehle. Neben ihnen betraten zwei Frauen die Klokabinen und setzten ihr Gespräch durch Plastikwände fort.
«Wird es auch nicht. «Sie erkannte in ihrer eigenen Stimme das Bemühen um Zuversicht.
«Sicher?«
Statt einer Antwort machte Kerstin einen Schritt nach vorne und schloss ihre Freundin in die Arme. Eine lächerliche kleine Träne löste sich aus ihrem Auge. Anita konnte eine ausgesprochene Hexe sein, aber sie besaß auch die Begabung, mit zwei Sätzen selbst die größte Irritation wieder aus der Welt zu schaffen — oder jedenfalls den entsprechenden Willen erkennen zu lassen. So hatten sie es immer gehalten: Anita war diejenige, die Ärger verursachte und ihn anschließend wieder in Ordnung brachte. Kerstins Job bestand darin, sich erst aufzuregen und dann zu verzeihen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Anita ihr die Tür im Immatrikulationsbüro buchstäblich ins Gesicht geschmissen.
«Sicher. «Mit einer tröstenden Geste, die ebenso sehr ihr selbst galt, strich sie über Anitas Haar.»Gehen wir rein tanzen?«
«Wer führt?«
«Die Einzige von uns beiden, die den Unterschied zwischen tanzen und hopsen kennt.«
Anitas Antwort beschränkte sich auf eine nachäffende Pantomime.
Der Tanzboden war direkt neben der Bühne für die Kapelle. Weiße Papiergirlanden zierten das Geländer. Ein Dutzend Tänzer mischte Walzerschritte mit Foxtrott und folgte eher der eigenen Stimmung als dem Takt der Musik. Strammwadige, kugelbäuchige, rotwangige Paare, keine bekannten Gesichter darunter, aber zwei weitere weibliche Gespanne. Der gemeine Bergenstädter schunkelte lieber. Das Zelt wirkte von oben noch voller und rauchiger, die Bergenstädter Pils- Schilder über dem Ausschank verschwanden beinahe im bläulichen Nebel. Sie sah ihren Mann auf der Bank stehen, ein Glas in der Hand, aber seit dem Reinfall mit dem Hochzeitswalzer hatte sie versprochen, ihn nicht noch einmal auf eine öffentlich einsehbare Tanzfläche zu zwingen.
Sie fielen aus der Reihe mit ihren kurzen Röcken und Anita in ihrem miederähnlichen Oberteil. Kaum hatte sie ihrer Freundin die Hand um die Hüfte gelegt und ihr ermahnend das Knie des Startbeins gegen den Oberschenkel getippt, sagte die auch schon:
«Ziehen wir wieder unsere alte Lesbennummer ab?«
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