«Vielleicht könnten wir ein Fenster öffnen?«
«Bitte sehr, die Dame im Polo ist ja weg. Sie haben nichts mehr zu befürchten.«
«Zum Teufel mit Ihnen , Granitzny.«
«Klar. «Der Rektor leert sein Glas, erhebt sich schwerfällig und geht zum Fenster.»Zum Teufel mit uns allen. Ich gehe davon aus, es hat nichts mit der Schule zu tun. Mit dieser Geschichte von neulich.«
«Haben Sie mich deshalb zum Fußball eingeladen? Um mir das zu sagen?«
«Sie sollten sich das mit der Stelle noch mal überlegen. Sagen wir: Bis zum Ende der Sommerferien brauche ich eine Entscheidung. «Dann weht eine laue Abendbrise ins Büro, die Schützen beider Mannschaften haben im Mittelkreis Aufstellung genommen, und die Torhüter gehen in Richtung des ausgewählten Tores. Granitzny nimmt Platz und gießt sich den nächsten Cognac ein, ohne Weidmann noch einmal anzubieten. Zehn Minuten später ist es entschieden: Die einen bilden einen wogenden Freudenknäuel, und die anderen vergraben die Gesichter in den Händen, und Weidmann tritt aus dem Eingang der Schule in den frühen Abend. Die Stimme des Reporters kommt aus dem offenen Fenster des Rektorzimmers, erste Interviews werden geführt, und Granitzny sitzt wie Buddha im bläulichen Schimmer.
Vor allem hat er Durst. Vom Marktplatz her ertönen Jubel und Hupen, ein Autokorso scheint sich zu formieren. Offenbar müssen alle Ausdrucksformen der Freude, die jemals im Fernsehen zu sehen gewesen sind, irgendwann auch in Bergenstadt ausprobiert werden. Gesetze scheinen am Werk zu sein in der Art, wie Leute plötzlich diese Weltmeisterschaft nicht feiern, sondern sich ihr hingeben, als wäre der freie Wille eine Erfindung, die der Welt noch bevorsteht. Aber welche Gesetze das sind, wer sie aufgestellt hat und welche Mechanismen ihre Einhaltung gewährleisten, wüsste Weidmann nicht zu sagen. Er geht über die Fußgängerbrücke und kann anhand des Hupens die Route des Autokorsos verfolgen. Merkwürdige Gleichförmigkeit jedenfalls, die sich einstellt, wenn man den Leuten sagt: Macht, was ihr wollt.
Richtung Ortsausgang sind ebenfalls ein paar motorisierte Fahnenschwinger unterwegs. Weidmann geht den Kornacker entlang, überlegt ihn weiter hoch zu laufen und an Kerstin Werners Tür zu klingeln, und wird vom Durst in die Grünberger Straße getrieben. In seiner Wohnung erwarten ihn Stille und die abgestandene Wärme eines Sommertages. Mit einem Glas Wasser steht er auf dem Balkon und sieht zu, wie die Fahne auf dem Schlossturm vom Schatten erreicht wird. Mauersegler flitzen über die Dachgiebel. Dann duscht er, brät sich Nudeln in der Pfanne, isst sie im Stehen und kehrt mit einem Bier auf den Balkon zurück — und mit dieser masochistischen Entschlossenheit, die man braucht, um entgegen innerer Neigung still zu sitzen und gar nichts zu tun. Er hat ein Hemd an, das man als Ausgehhemd bezeichnen könnte, aber er streckt die nackten Füße auf den zweiten Stuhl und trinkt in langsamen Schlucken. Aus Schneiders Küche weht ihm der Geruch gebratenen Fleisches entgegen. Der schönste Abend des Jahres, klimatisch. Im Park um das alte Landratsamt stehen riesige Kastanien, knorrige alte Bäume, hinter denen das verwitterte Ockergelb des Gebäudes verschwindet. Auf dem Balkon unter ihm wird der Tisch gedeckt, Herr Schneider sagt» Lass lieber noch zwei Minuten «und dann auf die nicht zu verstehende Entgegnung seiner Frau:»Ja du, aber ich nicht.«
Wird sie oder wird sie nicht bei ihm klingeln? Und will er oder will er nicht, dass sie es tut?
Sind Sie mutig, hat diese Viktoria ihn gefragt, und er glaubt die Frage jetzt mit hinreichender Sicherheit verneinen zu können. Jedes Mal, wenn er ein Auto in die Grünberger Straße einbiegen hört, hält er die Luft an und atmet erst wieder aus, wenn das Geräusch sich entfernt hat. Mutig wäre, sie anzurufen und zu fragen, ob die Veilchen ihr gefallen haben. Stattdessen geht er noch einmal hinein und stellt eine Flasche Weißwein kalt. Man kann nie wissen, man kann nur abwarten und bereit sein.
Um sich abzulenken, denkt er über Granitznys Angebot nach: Stellvertretender Schulleiter des Städtischen Gymnasiums Bergenstadt. A 15, knapp viertausend Euro netto. Er hat schon einen sechsstelligen Betrag angespart in den letzten Jahren, ohne sich je darüber klar zu werden, was er einmal mit dem Geld machen will. Hat auch keine rentableren Anlagemethoden in Betracht gezogen als das gute alte Sparbuch. Aktien sind ihm zu aufwendig, ihm fehlt die Geduld oder was auch immer man braucht, um sich über Kursentwicklungen und Gewinnprognosen Gedanken zu machen. Obwohl er schon lange keiner mehr ist, hat er den realitätsfremden Stolz des Geisteswissenschaftlers nie abgelegt. Ist entschlossen, nicht bis zur Wertschätzung des Materiellen zu sinken, aber an den Tatsachen ändert das nichts: Ein Haus in Frankreich, eine Wohnung in Berlin, finanziell wird ihm das alles möglich sein nach der Pensionierung. Fragt sich bloß, in welchem Zustand er sich in achtzehn Jahren befinden wird. ›Eingehen‹, hat Granitzny gesagt, und so weit weg von der Wirklichkeit war das gar nicht. Andererseits: Ob fünfzehn Jahre oder achtzehn Jahre, welchen Unterschied macht das? Er fühlt sich nicht müde, nur leer. Was man gemeinhin ›finanzielle Vorteile‹ nennt, hat für ihn keine Bedeutung. Was einmal Bedeutung gehabt hat, ist aus seinem Leben verschwunden, und dann ist es in Sackgassen auch nicht sonderlich wichtig, wie schnell man vorankommt. Soll lieber einer den Posten übernehmen, dessen Kinder studieren. Jemand mit Perspektiven, wie man so sagt, und einem noch nicht angekränkelten Begriff von Zukunft. Nicht er.
Erst als es klingelt, erinnert er sich ein Auto gehört zu haben. Beim Aufstehen merkt er, dass Cognac und Bier ihm stärker zugesetzt haben, als ihm bewusst war. Er ist angetrunken, und je nachdem, was Kerstin Werner von ihm will, trifft sich das vielleicht ganz gut.
«Dritter Stock«, sagt er in die Gegensprechanlage. Im Flurspiegel steht ihm ein Mann gegenüber, der sich nicht in die Karten gucken lässt. Eine unbestimmte Bereitschaft ist alles, was sein Gesichtsausdruck verrät, und eine Frau müsste selbst entscheiden, ob sie sich davon alarmieren oder beruhigen lassen will. Ein pragmatisches Zähnefletschen — keine Essensreste. Er öffnet die Tür.
Die Schritte verharren kurz im zweiten Stock, aber im Vorbeugen erkennt er sie an der Hand auf dem Treppengeländer; oder erkennt sie nicht, aber verliert den letzten Rest Ungewissheit. Dann tritt er wieder zurück und sucht innerlich nach dem richtigen Ton für seinen Einsatz. Guten Abend, lautet die erste Zeile. Kein Grund für Extravaganzen hier.
Von unten rechts kommt sie ins Bild, und eigentlich wollte er den Moment bemerken, in dem sie bemerkt, bemerkt zu werden, aber ihr Aufzug bringt alles durcheinander: Im schwarzen ärmellosen Kleid kommt sie um die letzte Windung der Treppe. Ihr Blick streift die Wand entlang, bis sie ihm direkt entgegensteigt, dann erst richten ihre Augen sich nach oben. Es ist Kerstin Werner und doch nicht die Frau, die er erwartet hat. Nicht die jedenfalls, die er aus dem Bohème hat flüchten sehen. Keine Verantwortung für ihr Unglück lädt der Blick ihm auf, mit dem sie ihr» Guten Abend «untermalt.
Er sagt nur» Ja«, als hätte sie ihm eine Frage gestellt.
Das Kleid betont ihre schlanke Gestalt und lässt gleichzeitig ihre Hüften erkennen, aber ihr Gesicht ist ungeschminkt, und ihre Haare hat sie nicht erst vor sehr kurzer Zeit gewaschen. Ein teurer Duft weht ihm entgegen, aber geschwitzt hat sie auch. Die Handtasche hält sie sich mit zwei Händen vor den Unterleib wie eine Kirchgängerin das Gesangbuch. Und in seinem Hinterkopf fehlen plötzlich ein paar Puzzleteile.
«Muss ich mich an Ihnen vorbeikämpfen, oder werden Sie mich reinlassen?«, fragt sie.
«Bitte. «Er tritt zurück in den Flur.
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