Stephan Kesper
Hochfrequent
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Inhaltsverzeichnis
Titel Stephan Kesper Hochfrequent Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
<: Du zeigtest mir einen Ozean des Wissens und ich habe daraus getrunken.
In der obersten Etage eines Hochhauses im Frankfurter Finanzdistrikt stellte eine Sekretärin ihren Monitor an und wollte gerade zur Kaffeemaschine gehen. Zwei Stockwerke darunter traf sich ein Abteilungsleiter mit einer Mitarbeiterin zu einem frühen Schäferstündchen in seinem Büro. Wieder drei Stockwerke tiefer hatte ein Investmentbanker die Nacht in Verhandlungen mit seinen japanischen Kunden verbracht und wurde sich bewusst, dass er nicht noch einmal nach Hause gehen konnte, um sich frisch zu machen. Im zehnten Stockwerk saß ein Student, der sich mit einfachen Bürotätigkeiten etwas dazu verdiente, mit einer dampfenden Tasse Kaffee vor dem Fenster, die Füße auf dem Tisch und sinnierte über den Möglichkeiten, das kommende Wochenende »sinnvoll« zu nutzen. Im siebten Stock stand eine Mitarbeiterin in der Abteilungsküche vor dem Fenster und wartete, dass der Wasserkocher mit dem Erhitzen fertig wurde. Und schließlich saß im dritten Stock ein Mitarbeiter der Poststelle gähnend vor seinem Monitor.
All diesen Leuten war gemeinsam, dass sie in kurzem Abstand nacheinander ein dunkles Objekt vor ihrem Fenster in die Tiefe stürzen sahen. Doch nur der Sicherheitsmann in der Lobby hörte den dumpfen Aufprall, von dem ihm plötzlich übel wurde. Es war Donnerstag, der 20. Juni, 06:27.
Im Polizeipräsidium wurde die Mordkommission dazu aufgefordert, bei den Vorbereitungen zum G7-Gipfel zu helfen. Alle anderen Ermittlungen hatten bis Sonntagabend, bis die »hohen Tiere« wieder abgereist waren, nachrangig behandelt zu werden, damit genug Ressourcen für die öffentliche Sicherheit zur Verfügung standen.
Igor Hohenstein schüttelte sich bei dem Gedanken, dass er, mit Schutzpanzer und Schlagstock ausgerüstet, im Getümmel der Demonstranten stehen sollte. Dafür war er mit Anfang fünfzig nun wirklich zu alt, was man ihm nicht ansah. Trotz seines einigermaßen runden Bauches konnte er sich einer gewissen Wirkung auf Frauen nicht erwehren. Er hatte noch immer dichtes, dunkles Haar – abgesehen von einigen grauen Strähnen. Ein distinguierter Kinnbart in Grau und Schwarz vervollständigte sein Aussehen als Intellektueller, vielleicht Universitätsprofessor oder Geheimrat oder reicher Philanthrop - ohne die Notwendigkeit der täglichen Arbeit. Letzterem Eindruck stand dann seine doch etwas schäbige Kleidung entgegen, aber wer wusste schon, ob das möglicherweise Absicht war? Nachdem die Sprache auf seine wirkliche Arbeit kam, hatte er oft erlebt, wie ihm zunächst etwas enttäuschte und später, nachdem die Sprache auf die Mordkommission kam, leicht entsetzte Blicke zugeworfen wurden. Unabhängig davon wusste jede Frau, was es bedeutete, einen Mann bei der Kriminalpolizei zu haben: Viele, lange, einsame Abende auf der Couch. Und das beendete in der Regel jegliche Verhandlung über weitere Treffen. Nicht, dass Hohenstein darauf gesteigerten Wert gelegt hätte. Schließlich hatte er vor fünf Jahren eine schmutzige, langwierige Scheidung hinter sich gebracht. Ihr war damals die Hauptschuld angelastet worden, er hatte ja »nur« gearbeitet. Doch trotz dieser Tatsache lebte sie mit den Kindern im Haus und er in einem kleinen, schäbigen Apartment im Nordend-West (nicht zu verwechseln mit dem Westend-Nord), um das er sich mit einer Horde Studenten hatte streiten müssen, die die Nähe zur Goethe-Universität gesucht hatten.
Von den Möbeln, die sie zusammen damals beim Einzug ins Haus gekauft hatten, passte praktisch nichts in dieses winzige Loch. Also kaufte er bei Ikea eine Reihe Billi-Regale (für seine Bücher), die zu den neuen Wänden seiner Behausung wurden und ein Bett. Mehr brauchte er zunächst nicht, und seit dem Einzug vor vier Jahren war auch nichts weiter dazu gekommen.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Kollegen auflachten. Den Scherz hatte er verpasst. Er blickte auf seine Armbanduhr: 07:33.
»Wo bist du?«, fragte Natalia Brandtner, seine Partnerin. Er schüttelte nur mit dem Kopf und hörte weiter dem Abteilungsleiter Hermann Borell zu.
»Kommen wir zurück zur Einteilung: Die Kollegen Schmitz, Mayer, Justan und Brandtner möchte ich in voller Montur in der ersten Reihe sehen. Sie unterstützen die Kollegen bei der Absicherung der Fahrtstrecke des amerikanischen Präsidenten in der Gegend um die Alte Oper. Die Einsatzkräfte vor Ort werden Ihnen die Details erklären.«
Brandtner hob den Arm, Borell reagierte sofort und zeigte auf sie: »Ja?«
»Ich wollte nochmal kurz auf die Stunden zu sprechen kommen. Der Präsident wird ja nicht vor neunzehn, zwanzig Uhr vorbeikommen. Wenn also alles glatt läuft, bin ich bis knapp einundzwanzig Uhr dort gebunden, obwohl ich am selben Tag für die Frühschicht eingeteilt bin. Da komme ich doch locker über die zehn Stunden Höchstbelastung.«
»Das ist korrekt, wir sind uns dessen bewusst. Wir können nicht garantieren, dass sämtliche Überstunden bezahlt werden,«, er wurde von einem lauten Aufheulen der Kollegen unterbrochen. Er hob beschwichtigend seine Arme und fuhr, als es wieder ruhiger wurde, fort: »... aber wir werden intern eine Ausgleichsregelung realisieren, mit der jeder zufrieden sein dürfte.«
So ging es weiter. Am Schluss stellte Hohenstein erstaunt fest, dass er nicht eingeteilt worden war. Die Kollegen verließen den Sitzungssaal geräuschvoll, während er noch sitzen blieb. Selbst Brandtner stand auf, streckte ihm ihren schmalen Hintern ins Gesicht und zog ihre Hosenbeine nach unten.
Sie musste einen guten Kopf größer sein als Hohenstein. Als sie wieder stand, wunderte sie sich, dass er sitzen geblieben war.
»Falls Du es nicht bemerkt hast, ich wurde nicht eingeteilt«, beantwortete er ihre nicht gestellte Frage. Sie hob eine Augenbraue und folgte den Kollegen.
Als der Raum fast leer war, ging er zum Abteilungsleiter und stellte ihm die Frage nach der Einteilung.
»Einige brauche ich hier, in der Zentrale.«
»Wieso ich? Glauben Sie, ich könnte keinen Beitrag leisten?«
»Igor, ich weiß, was Sie leisten können, aber Sie sind einer der Ältesten. Ich will Sie nicht in Situationen bringen, die Sie vielleicht körperlich nicht mehr bewältigen können.«
Hohensteins Gesicht nahm eine rote Färbung an. So etwas geschah äußerst selten. Borell bemerkte es, schaffte es aber lediglich, Hohenstein aufmunternd auf die Schulter zu klopfen und ihn stehen zu lassen.
In dem kleinen Büro, das er sich mit Brandtner teilte, setzte er sich, seufzte, wie es Generationen seiner russischen Vorfahren gemacht haben mochten und schüttelte die Enttäuschung, nunmehr zum alten Eisen zu gehören, einfach ab.
Brandtner tat so, als sei sie in einen Text auf ihrem Bildschirm vertieft. Doch sie sah immer wieder zu ihrem Kollegen herüber, um seine Laune einzuschätzen, die sonst, wie festzementiert auf »gut« stand – zu konstant, um echt zu sein.
Er hatte es natürlich bemerkt, seufzte erneut und sagte: »Nataschenka, wie meine Großmutter mütterlicherseits immer zu sagen pflegte: ›Höher als über deinen Kopf kannst du nicht springen‹.«
Plötzlich stand Borell im Türrahmen.
»Da ist einer von einem Hochhaus gesprungen, vermutlich Selbstmord. Schieben Sie das kurz dazwischen, dann können Sie sich den G7-Heinis voll und ganz widmen«, dabei legte er Hohenstein einen Zettel mit einer Adresse auf den Tisch und verschwand sofort wieder.
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