»Sicher, die Kameras bewegen sich nur nicht, also nehmen sie immer denselben Ausschnitt auf.«
»Können wir die sehen? Von heute Morgen, fünf Uhr dreißig?«
Warndorf winkte und sie folgten ihm zurück zum Überwachungsraum. Er zeigte auf einen IT-Schrank mit Glasfront. Hinter dem Glas befanden sich eine große Anzahl von DVD-Laufwerken. Hohenstein schätzte sie auf über zwanzig.
»Das sind die Langzeitspeicher. Auf denen speichern die die Kameras ihre Aufnahmen in so geringer Qualität, dass auf jede DVD zwei Tage Material passt. Mehrere Kameras teilen sich eine DVD und die Daten werden in Dateien darauf gebrannt. Nicht gerade der neueste Schrei der Technik, aber bewährt und zuverlässig. Die Firma, die das System herstellt, hat mit SB&M einen weltweiten exklusiven Vertrag geschlossen. Wir dürfen keine andere Technik einsetzen.«
»Dann zeigen Sie uns doch mal die Lobby um fünf Uhr dreißig.«
Stocktanz, der immer noch vor den Monitoren saß, bediente die Tastatur und klickte mit der Maus umher. Al-Fayed schien bereits gegangen zu sein.
Nach einigen Sekunden Tastaturgeklapper und Geklicke fragte Warndorf: »Was ist los?«
»Keine Ahnung, ich kann die Aufnahmen nicht finden«, antwortete der junge Mann vor den Monitoren. Dann stand er auf und öffnete den Schrank mit den Laufwerken. Er suchte kurz das korrekte Laufwerk und öffnete es. Eine leere Schublade kam herausgefahren.
»Was zum ...«
»Nichts mehr anfassen!«, rief Hohenstein.
Die folgende viertel Stunde stand Brandtner vor dem IT-Schrank, verhinderte damit, dass jemand sich daran zu schaffen machte und Hohenstein telefonierte auf dem Gang mit seinem Vorgesetzten. Er versuchte, Borell davon zu überzeugen, einen Trupp Spurenermittler zu schicken. Er vermutete einen Mord. Doch Borell wollte davon nichts hören. Er schrie so laut in den Hörer hinein, dass seine Stimme verzerrt klang: Hohenstein solle sich nicht einbilden, dass er dadurch irgendetwas gewinnen könne. Wenn ein Napfkuchen sich von einem Haus werfe, dann wäre das sicher nicht Borells Angelegenheit, besonders dann nicht, wenn es gerade einen G7-Gipfel vorzubereiten und abzusichern galt.
Hohenstein versuchte es noch einige Zeit weiter, doch biss auf Granit.
Dann legte er auf und informierte Warndorf, dass er alle Laufwerke öffnen wolle und sagte zu Stocktanz: »Bitte legen Sie eine Liste der Kameras an, die auf die jeweiligen Laufwerke schreiben, wenn diese leer sind. Beginnen Sie mit dem leeren Laufwerk, das wir bereits geöffnet haben.«
»Sagen Sie mir nur die Nummer des Laufwerks«, antwortete Stocktanz.
Hohenstein begann die Laufwerke zu öffnen, nachdem er sich einen Gummihandschuh angezogen hatte. Es dauerte einige Zeit, doch dann ergab sich ein Bild. Es fehlten sechs DVDs.
»Kann man die herausnehmen?«, fragte Hohenstein.
»Klar«, antwortete Stocktanz hastig, der junge Mann lief aus unerfindlichen Gründen knall rot an, »die können im laufenden Betrieb gewechselt werden.«
»Moment mal«, rief Warndorf dazwischen. »Sie können nicht einfach hier Sachen mitnehmen.«
»Doch kann ich. Das sind Beweisstücke«, zu Stocktanz fügte er leise hinzu: »Nehmen Sie bitte die leeren Laufwerke vorsichtig heraus und ziehen Sie vorher die hier an.«
Er reichte dem jungen Mann ein Paar blaue Gummihandschuhe.
Als sie fertig waren, trug Brandtner die sechs Laufwerke zu ihrem Wagen und legte sie vorsichtig, einzeln in Beweismittelbeutel verpackt, in den Kofferraum. Dann ging sie zurück, um mit ihrem Kollegen und dem Sicherheitschef das Dach zu untersuchen.
Mittlerweile hatte sich eine Traube aus Menschen angesammelt. Mitarbeiter und Schaulustige, die den Ort des Geschehens aus der Nähe betrachten wollten. Viele unterhielten sich aufgeregt untereinander. Andere schienen verstört.
In der Lobby hatten sich einige Gruppen von Menschen gebildet, die sich leise unterhielten. Eine Frau tupfte mit einem Taschentuch ihre Augen trocken und versuchte dabei, ihre Schminke nicht zu verwischen.
Der Fahrstuhl brachte sie in den 43. Stock. Warndorf musste seine Karte verwenden. Oben angekommen stiegen sie noch ein weiteres Stockwerk zu Fuß hinauf. Vom Prunk der Lobby war hier nichts mehr zu sehen. Die Korridore bestanden aus weiß gestrichenem Beton. An der Decke verliefen Rohre. Erhellt wurde alles vom grellen Neonlicht einiger Leuchtstoffröhren. Es gab keine Fenster.
»Vorsicht, hier kann es ziemlich stark wehen.«
Warndorf öffnete eine Stahltür. Plötzlich standen sie im prallen Sonnenschein. Nur ein leichter Wind wehte. Die Geräusche der Stadt hatten sie hinter sich gelassen. Es war beinahe friedlich.
»Er müsste von da vorne gesprungen sein«, Warndorf zeigte mit der Hand zum Rand des Dachs.
»Warten Sie bitte hier«, sagte Brandtner.
»Kein Problem, ich bin kein Freund von Höhen.«
Die Kommissare näherten sich vorsichtig der angewiesenen Stelle. Der Boden bestand aus Betonplatten. Bis zum Rand konnte Hohenstein keine Spuren erkennen. Nichts deutete darauf hin, was geschehen war. Am Rand sah er in die Tiefe hinab. Fast genau unter ihnen befanden sich die Menschenmenge und der leere Bereich in der Mitte mit dem großen Blutfleck. Der Leichnam war bereits abtransportiert worden.
»Wenn es wirklich Mord war, hat er sich vermutlich nicht gewehrt«, sagte Brandtner. »Er wurde vielleicht überrascht?«
»Hm, vielleicht«, Hohenstein war still geworden. »Oder er ist doch selbst gesprungen.«
»Und die fehlenden Überwachungs-DVDs?«
»Ein Versehen?«
»Glaubst Du das?«
Hohenstein zog die Mundwinkel runter und gleichzeitig die Schultern hoch. »Wer weiß?«, er drehte sich um und blickte Warndorf an: »Kommen hier viele Leute her?«
Der schüttelte den Kopf. »Ist verboten.«
»Verbieten die Regeln dann nicht das Öffnen der Tür?«, fragte Brandtner.
»Für die Meisten. Cox hatte Sonderrechte – in vielem«, Warndorf bekam einen seltsamen Gesichtsausdruck, der Wut, Neid oder etwas anderes sein konnte.
Hohenstein blickte zu den Hochhäusern der Banken. Einige größer, andere kleiner. Von einer der Straßen in Sichtweite stieg dichter, roter Qualm auf.
»Was ist das?«, fragte er Brandtner.
»G7 vermutlich, da hat jemand eine Rauchfackel gezündet.«
Die rote Wolke wurde immer dichter und größer, vernebelte sogar die Sicht auf die Häuser in der Straße.
»Da geht's ja richtig ab«, sagte Hohenstein.
Brandtner nickte und ging in Richtung Tür, die wieder ins Gebäude führte. »Wir möchten uns gerne das Büro von Herrn Cox ansehen.«
Warndorf schien seine abwehrende Haltung gegen eine wortlose Akzeptanz eingetauscht zu haben. Er öffnete die Tür mit seinem Ausweis, hielt sie offen, schloss sie wieder hinter den Kommissaren und ging zum Fahrstuhl. Im fünfunddreißigsten Stock hielt dieser an und sie stiegen aus. Der kalkweiße Beton war hier durch ein etwas wohnlicheres Ambiente ersetzt worden. Den Boden zierte ein dunkelgrauer Teppich, der die Geräusche dämpfte. Über allem hing der Geruch von zu oft geatmeter Luft und abgestandenem Kaffee, punktuell unterbrochen von Parfüm- oder Aftershavewolken, die aus den Büros entwichen, die links und rechts vom Gang lagen. Der Flur mündete in ein Großraumbüro, in dem acht Reihen von Tischen standen. Auf diesen befanden sich Wände von Monitoren, meistens vier, teilweise sechs neben- und übereinander. Viele Geräte zeigten Diagramme und blinkende Tabellen von – so vermutete Hohenstein – Börsenkursen. Auf anderen wurde nur Text oder bindfadenartig Geschriebenes angezeigt, das wie ein Zug Ameisen quer über den Bildschirm verlief.
Seltsamerweise saß niemand vor den Monitoren. Der Raum schien verlassen, die blinkenden Informationen auf den Schirmen verstärkten nur den Eindruck.
Am Ende des Großraumbüros, das geschätzt zwanzig Leuten Arbeitsplätze bot, lag zur linken Hand ein Glaskasten, auf den Warndorf deutete, ohne selbst hineinzugehen. Hohenstein sah an dem Büro vorbei, dahinter mochte sich eine Art Küche oder Gemeinschaftsraum befinden. Er ging zunächst dort hin, weil er Rücken von Menschen sehen konnte. Als er ankam, hörte er die Stimme eines Mannes:
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