«Wir gehen da lang. «Ohne sie anzusehen, wies Daniel mit dem Arm auf die andere Brücke, weiter oben vor dem Krankenhaus. Lindas mutmaßlicher Heimweg.
«Das ist ein sogenannter Umweg«, gab sie zu bedenken.
Wortlos schüttelte er den Kopf, sah noch einmal auf den Punkt in der Ferne und nickte:
«Dann los.«
Langsam gingen sie die schmale Straße entlang, die zwischen Festwiese und Sportplatz zur Brücke führte. Im Zelt spielte Musik, die während des Refrains beinahe versank im tausendstimmigen Chor der Feiernden. Vermutlich sang ihr Mann auch mit, falls Lars Benner sich nicht doch noch ein Herz gefasst und ihm die Faust ins Gesicht gesetzt hatte. Fröhliches Chaos regierte die Welt, Atome und Hormone, Alkohol und Adrenalin. Ihr Sohn ging rückwärts, weil irgendwo hinter ihnen Linda Preiss sich in Begleitung ihrer Mutter auf den Heimweg gemacht hatte, und ihr Mann ging im Kreis, weil gerade an Grenzgang niemand wusste, wo die Grenze eigentlich verlief. Man musste sich auf seine Instinkte verlassen, aber dann kam die Dunkelheit dazu und der Alkohol, und schon lief man irgendwo am Flussufer in ein junges Ding, das sich auch gerade auf seine Instinkte verließ.
Kerstin sah Linda und ihre Mutter Hand in Hand Richtung Brücke gehen, aber in mütterlicher Begleitung schienen beide Kinder es vorzuziehen, sich aus der Ferne Zeichen zu geben. Der Himmel war dunkel jetzt. Daniel zog an ihrer Hand.
«Trödel nicht so.«
«Hast du dir eigentlich schon mal vorgestellt, woanders zu wohnen? Nicht in Bergenstadt, sondern woanders.«
«Stell dir vor, das hab ich.«
«Und wo?«
«Bei Oma Liese zum Beispiel. Oder in Hamburg.«
«Wieso ausgerechnet in Hamburg?«
«Wieso ausgerechnet woanders? Willst du dich scheiden lassen?«
«Nein, will ich nicht. Aber zum Wollen gehören immer zwei und zum Nicht-Wollen auch.«
«Weiß ich«, sagte ihr Sohn.»Aber wenn ihr’s tut, hau ich ab.«
Sie kamen an die Kreuzung Rheinstraße. Frau Preiss und ihre Tochter würden beim Krankenhaus links abbiegen Richtung Grundschule, Kornacker und Rehsteig, und sie und ihr Sohn beim Asylantenheim rechts Richtung Marktplatz, Bürgerhaus und Hainköppel. Bis nach Hause war es noch ein ziemlich weiter Weg. Sie blieben kurz stehen und winkten, Linda und ihre Mutter winkten zurück, und Kerstin suchte nach etwas, was sie rüberrufen konnte als Abschiedsgruß, aber ihr fiel nichts ein. Einmal waren sie zusammen Essen gewesen, Preissens und Bambergers, im letzten oder vorletzten Jahr, aber das hatte nicht zu einer Vertiefung der Bekanntschaft geführt. Sie kannten sich kaum und gingen einander nichts an.
* * *
Wie einem Schüler, den er der Lüge verdächtigt, steht er seinem Computer gegenüber. Das Bild ist schwarz-weiß, weich gezeichnet und zeigt ein Spiel aus Licht und noch mehr Schatten; offensichtlich von einem Profi gemacht, jedenfalls lässt der Hintergrund in seiner Möbelarmut eher an ein Studio als ein Wohnzimmer denken, und der Vordergrund erscheint sowieso allzu präzise arrangiert: Die Frau, die sich Viktoria nennt, räkelt sich auf einem Kanapee, ein Bein in schwarzen Netzstrümpfen ausgestreckt, das andere so angezogen und übergeschlagen, dass der Schoß verdeckt wird. Nicht zu erkennen, ob sie Unterwäsche trägt. Ein Hut mit Krempe, unter dem die Augen zwar nicht verschwinden, aber im Schatten liegen und den Betrachter mit einem Blick konfrontieren, den er nicht sieht. Der Oberkörper ist nackt, eher schmal, und die Brust wiederum nur im Ansatz zu sehen über einem im ellbogenlangen Handschuh steckenden Unterarm. Die andere Hand hält einen Zigarillo im langen Mundstück, abgewinkelt und wie zum Gruß erhoben. Weißer Rauch steigt auf, so dicht, dass er einen Schatten auf den Oberschenkel der Frau wirft. Deren Alter schätzt Weidmann auf über vierzig, auch wenn alle körperlichen Anhaltspunkte sorgsam kaschiert sind durch die Pose und das fehlende Licht. Aber eine jüngere Frau, glaubt er, würde mehr zeigen und weniger suggerieren.
Das also ist das Angebot. Der Text dazu lautet:
Mein lieber Scharrl,
es freut mich, dass Sie so rasch auf meinen Brief geantwortet haben und ein Treffen in Betracht ziehen. Ihr Foto ist vielleicht nicht gerade das, was man ›aussagekräftig‹ nennen würde, aber ganz sicher werde ich nun Ihr Gesicht erkennen, wenn wir einander begegnen. In Anbetracht des beigefügten Fotos von mir mögen Sie vielleicht Zweifel haben, ob umgekehrt das Gleiche gilt, aber ich kann Sie beruhigen: Meine Aufmachung wird derjenigen auf dem Foto so ähnlich sein — im Stil, nicht en détail —, dass Verwechslungen kaum zu befürchten sind.
Gefällt Ihnen der Stil? Seien Sie ehrlich und antworten Sie nicht wie diejenigen, die ein Essen, das ihnen nicht schmeckt, ›interessant‹ nennen.
Die Frage, ob Sie mutig sind, scheinen Sie schon dadurch für beantwortet zu halten, dass Sie auf meinen ersten Brief überhaupt reagiert haben. Nun, ich bin dessen nicht sicher, aber ich werde mir ein Bild machen, wenn Sie mir denn bei unserem Treffen genauso offenen Blickes gegenübersitzen wie auf Ihrem Foto (ein Passfoto, Scharrl, schämen Sie sich! Wie ist es bloß um Ihre Phantasie bestellt? Ich musste mich damit trösten, dass Ihr Namensgeber schließlich auch … nun, beenden Sie den Satz selbst. Sie scheinen sich Ihrer anderen Qualitäten jedenfalls sehr sicher zu sein).
Wo treffen wir uns also? Sie werden verstehen, dass ich das Aussehen, welches ich mir für Sie zu geben gedenke, nicht öffentlich zu Markte tragen kann. Folglich bestelle ich Sie in einen Club, wo derlei Auffälligkeiten nicht auffallen. Den Namen und die Adresse finden Sie in der zweiten Anlage. Auch eine Wegbeschreibung. Am Samstag den 24. um 21 Uhr, Monsieur. Wenn Ihr Foto eines verspricht, dann eine unwiderstehliche Neigung zur Pünktlichkeit.
Erschrecken Sie nicht angesichts der Abgeschiedenheit des Ortes und ziehen Sie sich an, wie Sie mögen.
V.
Ziemlich starker Tobak für einen Sonntagmorgen. Kopfschüttelnd trinkt Weidmann einen Schluck Kaffee, klickt noch einmal auf das Foto und nimmt sich vor, ihren Stil in seiner Antwort nun erst recht ›interessant‹ zu nennen. Wie auch sonst? Die Schnittmenge aus Ehrlichkeit und Höflichkeit ist selten groß, und wo sie gar nicht besteht, bleibt eben nur Ironie. Den Anhang mit der Wegbeschreibung ignoriert er, liest stattdessen die Mail noch einmal und ärgert sich über diese Anspielung auf seine ›anderen Qualitäten‹. So teigig und unscheinbar wie das Konterfei Baudelaires ist sein Gesicht auf dem Passfoto auch wieder nicht. Soll er überhaupt noch einmal zurückschreiben? Er ist nicht enttäuscht, er wird sich nur plötzlich des enormen Grabens bewusst, der ihn von der Frau auf seinem Bildschirm trennt, und fragt sich, was einen dazu bringt, in diesem Alter noch als Marlene Dietrichs verdorbene Cousine zu posieren. Davon abgesehen ist er wieder einmal zu früh wach geworden, in die Leere des arbeitsfreien Tages hinein und erinnert sich, in einem Roman gelesen zu haben, es seien die Sonntage, derentwegen Ehepaare zusammenbleiben, nachdem die Liebe längst das Weite gesucht hat. Die dünne Luft auf dem Hochplateau eines Nachmittags ohne Verpflichtungen. Und jetzt beginnt gerade erst der Vormittag, beginnt mit fließenden Schatten auf den zugezogenen Gardinen, Vogelgezwitscher und der Abwesenheit von Schritten im Treppenhaus. Stattdessen leise Klaviermusik aus dem Radio in der Küche.
Andererseits: Vorahnung und Erfahrung sagen ihm, dass die Gefahr einer Verfolgung mit weinerlichen E-Mails von Seiten der resoluten Madame Viktoria nicht besteht. Wer sich so offen verkleidet, verstellt sich nicht, und was von ihrem Gesicht überhaupt zu erkennen ist, der leichte Höcker ihres Nasenbeins, der schmallippige Mund, deutet auf einen zähen Stolz, der es ihr nicht erlauben wird, einem Mann hinterherzulaufen, der nach dem ersten Treffen zu erkennen gibt, an einem zweiten kein Interesse zu haben. Eher wird sie den Unwilligen zum Unwürdigen erklären und entschlossen seine Mailadresse löschen. Insofern droht immerhin kein lästiges Nachspiel, sollte der Abend kein Erfolg werden.
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