Es bleibt ihm also gar nichts anderes übrig, als diese Viktoria zu treffen. Sich ablenken, die kurze Spannung genießen und die lange Enttäuschung danach mit einem starken Getränk runterspülen. Schließlich ist er niemandem Rechenschaft schuldig und muss keine Rücksicht nehmen. Er ist bloß ein bettflüchtiger Spaziergänger am Sonntagmorgen. Vor einer Woche hat er auf Kerstin Werners Terrasse gesessen und sich plötzlich gefragt: Wie lange ist es her, dass ich mich mit einer Frau unterhalten habe, ohne das Gespräch als Teil des Vorspiels zu betrachten? Jetzt sieht er durch die Bäume hindurch die verlassene Bundesstraße, die Abzweigung Richtung Sackpfeife und dahinter die steilen Hänge des Kleibergs. Denkt: Es würde niemals funktionieren.
Sie hat eine gescheiterte Ehe hinter sich, eine pflegebedürftige Mutter im Haus und einen Sohn am Scheideweg zwischen Selbstständigkeit und Verkorkstheit. Im Gespräch strahlt sie eine hart erkämpfte und leicht ramponierte Würde aus, und ihm ist nichts Besseres eingefallen, als ihr mit dieser Frage nach der Halbwertszeit von Stolz zu kommen. Ein unverzeihlicher Ausrutscher und nur damit zu erklären, dass er längst aufgehört hatte, den Besuch bei ihr als Erfüllung einer beruflichen Verpflichtung zu betrachten. Wie auch nicht? Eine attraktive Frau, vor sieben Jahren schon und jetzt immer noch, und all das fällt ihm ein, weil entlang der Schwarzdornhecke am Wegrand Veilchen blühen und ihn an den verwelkten Strauß in ihrer Diele erinnern.
Weidmann bleibt stehen und wischt sich über die Stirn.
Eigentlich ist die Veilchenzeit vorbei, aber hier direkt vor ihm blühen sie, als wären sie seinetwegen aus dem Boden geschossen. Er bemüht sich, gar nichts zu denken, sondern nur zu zählen, während er in die Hocke geht und vorsichtig zu pflücken beginnt. Bei zehn steht er wieder auf. Die finale Antwort gibt es sowieso nicht, hat er früher seinen Studenten gesagt. Keine Formel, in die sich fassen ließe, was wir tun und warum. Es gibt nur die Suche und manchmal das Finden. Oft hat er das gesagt und würde in diesem Augenblick die Behauptung wagen, er habe Recht gehabt.
* * *
Der Lärm von der Festwiese klang zwischen den Häusern wider und fand hier und da ein dumpfes Echo im Gesang heimwärts ziehender Betrunkener. Fast kein Verkehr auf der Rheinstraße, nur Teile der Festdekoration lagen über Fahrbahn und Gehwege verteilt. Gefleddertes Grünzeug. Der Ort schien leer und ausgelaugt, von erratischem Gebrüll erfüllt. Alleine auf dem Festplatz loderte das Feuer weiter und zog Feierlustige an. Kerstin spürte Müdigkeit in den Gliedern, die Rastlosigkeit ihrer Gedanken und die immer dichter werdende Finsternis in den Hinterhöfen. Mehr denn je kam Bergenstadt ihr vor wie eine Falle.
Aber wenn ihr’s tut, hau ich ab, hatte Daniel auf der Lahnbrücke gesagt. Seitdem punktierte der gleichmäßige Rhythmus ihrer Schritte das Schweigen, und Kerstin wünschte, sie hätte irgendwo in der Nähe ihr Auto stehen. Vor ihnen öffnete sich die Rheinstraße auf den Marktplatz. Ein paar Stimmen irrten durch die Nacht, Schatten saßen auf den Stufen vor dem Brunnen, und vor der Pommesbude stand die kleine Schar der immer noch Durstigen oder schon wieder Hungrigen oder immer dort Stehenden. Erst jetzt sah sie die mit Farbe aufs Kopfsteinpflaster gemalten Kästen für die Aufstellung der Männer und Burschen, groß wie Busse und mit den Namen der jeweiligen Gesellschaften versehen. Der ganze untere Marktplatz erinnerte an das Schnittmuster eines Kleidungsstücks.
Zwei Tage hatte sie geschafft, einer stand ihr noch bevor.
Daniel wurde müder mit jedem Schritt, kippte gegen sie und legte den Kopf an ihre Seite. So überquerten sie den Marktplatz und gingen den Gartenberg hinauf Richtung Bürgerhaus. Am steilsten Stück musste sie ihm die Hand auf den Rücken legen und schieben.
Den einsamen Fußgänger vor ihnen, der bereits das Ende des Aufstiegs erreicht hatte, erkannte sie erst mit Verzögerung als ihren Mann. Offenbar war der gleich nach ihnen aufgebrochen und hatte den kürzeren Weg über die THW-Brücke genommen. Ging vor ihnen wie ein Fremder in der Nacht. Im nächsten Moment war er wieder außer Sicht, aber sie hörte seine Schritte auf den Stufen, die zum Parkplatz vor dem Bürgerhaus führten.
«Da vorne geht einer, der dich vielleicht tragen kann«, sagte sie zu ihrem Sohn.
«Wer?«
«Dein Vater.«
Daniel schüttelte den Kopf an ihrer Seite, beinahe so, als wäre er schon am Einschlafen.
Als sie den Parkplatz erreicht hatten, ging Jürgen die Senke ins Wohngebiet Wiesengrund hinab, mit langsamen, schweren Schritten, fand sie. Vor den meisten Häusern stand ein Fahnenmast mit dem Bergenstädter Stadtwappen. Sobald sie bergab liefen, hielt hinter ihnen der Gartenberg die Geräusche der Festwiese zurück, ließ den Klang ihrer Schritte lauter erscheinen und die Stille über den Grundstücken dichter. Manchmal hörte Kerstin Jürgens Säbelspitze über den Boden kratzen. Sie wollte rufen und tat es nicht. In versprengten Bündeln zu eins und zwei kehrte die Familie Bamberger von der Schlacht heim und war auf ganzer Linie besiegt. Jürgen drehte sich nicht um. Mit Uniform und Säbel sah er aus wie ein kleiner Junge, der von einer Faschingsfeier kommt, auf der niemand mit ihm spielen wollte und alle über seine Verkleidung gelacht haben.
Seinen Namen rief sie nicht.
Nach allem, was sie wusste, hatte er einmal mit dieser Andrea auf einer Parkbank rumgemacht, und sie hatte dafür am nächsten Abend mit Thomas Weidmann auf der Brücke geknutscht, was sie ihrem Mann zwar nicht zu erzählen gedachte, ihr aber half, ihre Niederlage in ein Remis umzudeuten und sich zu sagen: Wenn weiter nichts geschah, würde es ihretwegen nicht nötig sein, Daniel zum Abhauen zu zwingen. Außerdem stellte sie fest, dass hinter Müdigkeit und Erschöpfung ein Verlangen in ihr glimmte und auf schnellen Friedensschluss drängte, vielleicht sogar darauf, selbigen umgehend zu besiegeln durch das, was ihre beste Freundin einen ›Versöhnungsfick‹ nannte. Anitas Meinung nach waren das sowieso die besten.
Wie einen Schlafwandler führte sie Daniel das kurze abschüssige Stück des Hainköppels entlang, das umgehend in ein kurviges Steilstück überging. Weiter oben verschwand Jürgen um die letzte Kurve und wunderte sich wahrscheinlich, dass zu Hause kein Licht brannte.
«Komm, Daniel, nur ein paar Schritte noch.«
Ihr Sohn antwortete nicht mehr und hatte die Augen geschlossen. Halb zog und halb schob sie ihn die Steigung hinauf. Die Nachtluft war aufgeladen mit Blütenduft aus den großzügigen, dicht bewachsenen Grundstücken rechts und links der Straße. Üppige, knospige Süße, die besser zum Mai als zum August passte. Sobald sie die Höhe des Gartenbergs überschritten, hörte sie die Musik vom Festplatz wieder lauter, aber hier in der privilegierten Hanglage am Hainköppel war der Atem der Nacht nicht mehr schal und abgestanden, sondern wehte kühl vom Wald herab. Sie sah das Licht im Wohnzimmer angehen und auf den Rasen fallen. Einen Schemen in der Mitte des Zimmers. Spürte einen Hauch von Alles-wirdgut.
Am Fuß der Einfahrt klopfte sie Daniel auf die Schulter.
«Geschafft. Linda schläft bestimmt schon. «Aber er war kein frisch verliebter Entdecker mehr, sondern ein erschöpftes Kind, zu müde, um mit mehr als einem Nicken auf die Worte seiner Mutter zu reagieren. Kurz drückte sie ihn an sich, hielt ihr Gesicht in sein Haar und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann war sie bereit für die Begegnung mit ihrem Mann.
Das Licht aus dem Wohnzimmer fiel durch die Glastür bis in die Diele. Daniel kickte seine Schuhe in die Ecke und schlich auf Socken die Treppe hinauf.
Kerstin blieb in der Tür stehen.
«Guten Abend«, sagte sie.
In aufgeknöpfter Uniform stand Jürgen zwischen Wohnzimmertisch und Sofa und hielt die Fernsehzeitung in der Hand, als hätte ein Porträtfotograf ihn dazu aufgefordert. Bis zur Tür konnte sie den Geruch aus Schweiß, Bier und Festzelt riechen. Er sah müde aus, geradezu verwirrt, und für einen Moment fand sie ihn Lars Benner gar nicht unähnlich.
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