Das war immerhin schön gesagt.
«Sie haben keine Kinder, nicht wahr? Seien Sie … nein, seien Sie’s nicht. Vergessen Sie’s einfach«, flüstert sie, das Gesicht so nah am Badezimmerspiegel, dass eine milchige Blase ihren Mund auszuradieren scheint. Mit beiden Zeigefingern fährt sie vom Ansatz der Nasenwurzel nach außen, unter den Augen das Jochbein entlang. Falten-Prophylaxe, ein Tipp aus der Brigitte . Für den Fall, dass Weidmann ihr Bad benutzen will, hat sie die über dem Heizkörper hängende Wäsche abgenommen und mangels einer anderen Gelegenheit in die Kommode unter dem Waschbecken gestopft. Jetzt kommt der Raum ihr nackt vor. Den weißen Lack der Heizung verunzieren dunkle Streifen, und auch die Kacheln darunter wirken angegriffen, abgenutzt, alt. Die Fensterbank tut vergebens so, als wäre sie aus Marmor.
Bitte auch daraus keine falschen Schlüsse zu ziehen, denkt sie.
Den Plastikbecher mit Deckel, in dem nachts das Gebiss ihrer Mutter sein Corega-Bad nimmt, hat sie im Spiegelschränkchen verstaut und holt ihn jetzt mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wieder hervor. Wozu so tun als ob? Und als ob was? Ihr Blick fällt auf den kleinen austernförmigen Flakon, dessen Glas selbst im Dämmerlicht ihres Bades seltsam zu funkeln scheint in seinem hellen, transparenten Gelb. Eine dieser exklusiven Marken, deren Namen sie vor dem Auspacken der Postsendung nie gehört hat. Der Gegenwert von Anitas schlechtem Gewissen. Mit einer schnellen Bewegung nimmt sie den Flakon in die Hand. Angenehm schweres, geriffeltes, weich gerundetes Glas. Nicht kühl, nicht warm liegt es in ihrer Handfläche. Sie zieht den Verschluss ab, hält ihn sich vor die Nase. Schnuppert.
Die Gemeinheit.
Ein Landstrich in Küstennähe, wo die Luft schwer ist von Lavendel und das Licht bernsteinfarben am Abend. So fühlt es sich an, nach dem Bad in ein Sommerkleid zu schlüpfen, mit Wasserperlen auf der Haut. Schlicht wie Baumwolle, kostbar wie Jugend, es ist ein Betrügerduft, der so tut, als könnte man sich einfach wieder auf die Haut sprühen, was das Leben längst abgetragen hat. Für sich selbst hätte Anita das nie gekauft, sie mag nichts flüchtig Sanftes, sondern bevorzugt Düfte, die die solide Unbescheidenheit des Reichtums atmen, dessen Perlen nicht aus Wasser und dessen Kleider nicht aus Baumwolle sind. Also hat sie eine Parfümerie aufgesucht und sich beraten lassen. In Nizza gibt es sicherlich Geschäfte, wo wenige Stichworte genügen, um eine Vorstellung von jener Madame Kerstin zu entwickeln und zu wissen, welcher Duft ihr am besten steht. Ein Bild nach Anitas Vorstellung, ein Mosaik aus wohlwollenden Lügen, so betrügerisch wie der Duft, der schließlich auf ein Probenschildchen gesprüht und mit geübter Handbewegung in den Raum disseminiert wird. Voilà, nicht wahr, man glaubt die ferne Freundin geradezu vor sich zu sehen in all ihrer schlichten Natürlichkeit. Oder natürlichen Schlichtheit. Sprechen wir’s aus: in ihrer liebenswerten Beschränktheit. Als wäre dieser Duft der Schleier, den sie im Vorbeigehen mit sich gezogen hat.
Kerstin stellt den Flakon zurück, klappt den Klodeckel herunter und widersteht dem Drang, sich darauf niederzulassen. Wahrscheinlich ist in der Küche der Kaffee schon durchgelaufen, und Weidmann beginnt sich zu wundern auf der Terrasse. Natürlich kann sie ihm, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, auch das kleine Gästeklo neben der Haustür anbieten, aber erstens ist das kein Gästeklo, sondern Daniels Privatklo, und zweitens muss sie befürchten, dass dieser telefonzellengroße, graubraun gekachelte Raum einen noch schlechteren Eindruck auf ihn macht. Sofern das Äußere eines Menschen Rückschlüsse auf das Innere seiner Wohnung zulässt, muss man sich Weidmanns Bad als gepflegtes Refugium vorstellen, einfach, aber ganz sicher hell, vielleicht mit einer Kaktee genau in der Mitte der Fensterbank oder einem Zeitschriftenbehälter aus Eiche, unauffällig zwischen Toilette und Wand platziert. Und drittens wäre es ihr wie eine Indiskretion vorgekommen, den Klassenlehrer ihres Sohnes in dessen Klo vorzulassen, ihm einen Blick auf die abgenutzte Zahnbürste, den Nivea For Men -Deo-Roller und das Fläschchen Gesichtswasser werfen zu lassen, das mangels Kommode in der Tasche von Daniels Bademantel steckt. Nein, in der gegenwärtigen Situation muss sie einfach hoffen, dass auch die dritte Tasse Kaffee die Blase von Studienrat Weidmann nicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt.
«Ich zähl auf Sie«, sagt sie ihrem Spiegelbild und verlässt das Bad.
Von der Küche aus kann sie Weidmann auf dem Gartenstuhl sitzen sehen, die Beine ausgestreckt und trotzdem mit geradem Rücken, also gleichzeitig entspannt und aufmerksam, wenn sie das aus dem Seminar Körpersprache und nonverbaler Ausdruck noch richtig in Erinnerung hat. Er scheint in den Anblick ihres blühenden Hanges vertieft zu sein. Im Gespräch folgen seine Augen manchmal einige Flügelschläge lang einem Schmetterling oder einer der Drosseln in der Kastanie und geben Kerstin Gelegenheit, das Fehlen eines Bauchansatzes und seine gepflegten Hände zu bemerken, aber jetzt steht sie mit dem Steiß gegen die Küchenanrichte gelehnt, sieht dem Kaffee zu, wie er in die gläserne Kanne tropft, und fragt sich, warum eine bestimmte Art von Nervosität sie partout nicht verlassen will. Nach allem, was er ihr gesagt hat, gibt es Gründe, erleichtert zu sein: Ein Verweis von der Schule steht nicht zu befürchten, und so gravierend Daniels Vergehen ist, scheint sein Klassenlehrer nicht bereit zu sein, es als Ausdruck eines zu Gewalt und Gewissenlosigkeit neigenden Charakters zu verstehen. An diesem Punkt ist er ein wenig vage geblieben, offenbar in dem Bemühen, das heikle Thema Familie nicht gegen ihren Willen zum Gesprächsthema zu machen. Auch als Psychologe spielt er sich nicht auf, begnügt sich mit den Fakten und lobt zwischendurch ihren Kaffee, ohne dass es bemüht oder anbiedernd wirkt. Keine noch so versteckte Anspielung auf Festplätze, Lahnbrücken, Heimlichkeiten. Das Gespräch tut ihr gut, sie mag den ruhigen Fluss seiner Rede und die Aufmerksamkeit seines Schweigens und vermutet, dass irgendwo in seinem Familienstammbaum ein paar Pfarrer hocken. Und trotzdem: Sie steht in der Küche, lässt die Minuten verstreichen, ihren Gast auf der Terrasse sitzen und hätte es vorgezogen, an diesem einen halben Nachmittag, den ihre Mutter außer Haus verbringt, alleine zu sein.
So bin ich, denkt sie. Wir müssen damit leben.
— Wer ist ›wir‹?
— Oh, nein, nein, nein! Wer meinen Geburtstag vergisst, bekommt auf solche Fragen keine Antwort.
— Du musst damit leben, glaubst nur du. In Wahrheit müsstest du dein Leben ändern.
— Dreiundzwanzig Jahre kennen wir uns, und ich hab nicht ein einziges Mal deinen Geburtstag vergessen.
– Ä-n-d-e-r-n.
— Als Daniel die Mandeln rausgenommen wurden, hab ich vom Telefon unten im Krankenhaus aus angerufen. Nach Kreta.
— Korfu. Du hast also beschlossen zu schmollen.
— Hab ich nicht. Ich schmolle einfach so.
— Flotter Kerl, da draußen auf der Terrasse. Für Bergenstädter Verhältnisse, anyway. Bin nicht sicher, aber ich glaube, ich hab ihn mal geküsst auf einer Abi-Fete.
— Fragt sich, wer von uns beiden sein Leben ändern muss. Übrigens hab ich ihn selbst mal geküsst und dir nie davon erzählt.
— Schnupper mal, wenn du ihm Kaffee eingießt. Ich tippe auf Yves Saint Laurent. Und apropos, gefällt dir, was ich dir geschickt habe?
— Ist nicht mein Stil.
— Deshalb hab ich’s dir ja geschickt.
Eben! Eben genau das! Oh, womit nach einer Einbildung werfen?!
— Es gibt viele Entscheidungen, die ich nicht mehr frei bin zu treffen, aber wie ich rieche, würde ich gerne weiterhin selbst bestimmen.
— Hör auf zu schmollen, hör auf mich. Du traust dich nicht zu leben, wie du gerne möchtest. Du traust dich nicht mal so zu riechen, wie du gerne möchtest.
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