Er blieb stehen, wollte angewidert sein von dieser Szenerie dörflichen Amüsements und schaffte es nicht. Brachte gerade mal ein abschätziges Hochziehen der Mundwinkel zustande, das man ebenso gut für ein Lächeln hätte halten können. Zu lau war der Abend, zu sanft und fern der verlöschende Himmel. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, musste er sich eingestehen, in diesem Augenblick nirgendwo anders sein zu wollen. Kerstin Bamberger stand einige Meter entfernt von ihm, eine dunkle Silhouette inmitten der Neonlichter. Mit den Händen zog sie ihren Zopf fest, ohne die suchende Bewegung ihres Kopfes zu unterbrechen. Am Morgen, auf dem Weg den Kleiberg hinauf hatte er versucht, den Status quo zu bestimmen, seine exakte Position am Kap der verlorenen Hoffnung. Nun ließ er sich treiben und hielt auf den dunkelblonden Zopf zu, der wie eine Boje in der Menge schwamm. Groß gewachsen war sie, sportlich und mit einer gewissen beiläufigen Grazie, ihrer Ausbildung durchaus angemessen, auch wenn sie, wie sie es am Frühstücksplatz formuliert hatte, schon Ewigkeiten nicht mehr aktiv war, sportmäßig.
«Hallo«, sagte er.»Sie sind ja doch noch gekommen.«
Sie drehte sich um, und es war das Fehlen von Überraschung in ihrem Blick, das ihm versicherte, sie habe im Lauf des Abends an ihn gedacht. Stattdessen ein Lächeln, das an Verbindlichkeit grenzte. Vielleicht hatte sie sogar den Hals gereckt im Festzelt, hatte zum Rehsteig hingesehen, dem er zwar nicht offiziell angehörte, wo er sich aber inoffiziell zugehörig fühlte, oder so ähnlich hatte er es ihr gesagt. Aus alter Familientradition, sein Vater sei schließlich auch mal … (Pause, Lächeln, Schulterzucken) Führer gewesen.
«Mein Sohn hat drauf bestanden. Wie geht’s Ihren Füßen?«
«Danke, im Sitzen geht’s.«
«Immerhin haben Sie jetzt andere Schuhe an.«
«Wo ist Ihr Sohn?«
Sie schien dankbar zu sein für die Gelegenheit, ihren Blick schweifen zu lassen. Und er ebenso: Sie hatte einen schlanken Hals und stand kerzengerade, mit vor der Brust verschränkten Armen. Einen mitgebrachten Pullover hielt sie wie einen Muff um die Hände gewickelt. Etwas Angestrengtes sprach aus ihrer Haltung, ein Bemühen, so gerade zu stehen und den Kopf oben zu behalten.
«Wenn Sie neun wären, ein Junge von neun Jahren — wo wären Sie jetzt?«
«Autoskooter. «Nach all den Grübeleien der letzten Tage fühlte es sich wie eine Erlösung an, diesen einfachen männlichen Gedanken zu denken: Da ging was. Sie würde sich zwar nicht mit ihm in die Büsche schlagen zu einem hastigen Ehebruch im Stehen, aber diesseits der Grenze gab es einen Spielraum, den sie zu betreten bereit war, das spürte er genau.
«Begleiten Sie mich?«
Am Frühstücksplatz hatte er das Gefühl gehabt, seine Anwesenheit behage ihr nur während der Abwesenheit ihres Sohnes; sobald der kam, um von seiner Cola zu trinken oder ihr sein neuestes Abzeichen zu zeigen, war sie ihm entgegengegangen, weg von dem fremden Mann, der etwas abseits an der Böschung saß und den trotzdem skeptische Kinderblicke getroffen hatten. Jetzt ging sie los, ohne seine Antwort abzuwarten.
«Gerne.«
Sei ein Mann, hatte Konstanze gesagt, oder nicht? Solange er sich der Gelegenheit nicht sicher war, seine Freundin zu betrügen, wollte er die Tat wenigstens in Gedanken ausmessen. Als Vorbereitung oder notfalls als Ersatz. Zu viel in den letzten Tagen hatte er schweigend geschluckt, von Schlegelbergers verschlossener Tür bis zum doppelten Hinweis auf sein Staatsexamen. Sein Sinn für Anstand war darüber taub geworden, und es war diese Taubheit, die er jetzt am meisten genoss. Eine lokale Anästhesie, die genau jene Fragen ausblendete, die sich sonst an das Vergnügen kleben wie Fliegen an ein Limonadenglas. Er hatte geduscht und frische Kleider angezogen, spürte eine schützende Hülle aus Duft und Baumwolle um sein geschundenes Ego und war bereit zur Großzügigkeit gegenüber sich selbst.
Kerstin Bambergers wippender, mußevoller Gang gefiel ihm. Trotz der leichten Sommerkleidung verriet keine Linie im Stoff Art und Form ihrer Unterwäsche. Weidmann musste sich zwingen, die Augen abzuwenden, und sah ihren Sohn, bevor sie ihn sah. Statt aufzuschließen, schlenderte er wie zufällig hinter ihr her. Um das blitzbeleuchtete Viereck des Autoskooters herum standen Halbwüchsige und wippten im Takt der Musik. Hier und da mussten Mädchen in eines der kleinen Fahrzeuge gezerrt werden. Jungs fuhren einhändig, lässige Cruiser, den freien Arm um die Schultern der Beifahrerin gelegt.»Nächste Runde, nächster Versuch, Spaß für alle«, rief eine Lautsprecherstimme. Daniel und sein Freund standen im Rücken der Älteren, zählten Bons und sahen nicht erfreut aus, als Kerstin Bamberger sich zu ihnen gesellte.
«So!«hörte er sie sagen.»Alle Autos in die Garage jetzt.«
Ein plötzlicher Anfall von Müdigkeit brach in das filigrane Geflecht seiner Phantasie ein und drängte ihn, nach Hause zu gehen. Lass es, sagte die erschöpfte Stimme, und der Vorgeschmack des schlechten Nachgeschmacks, den alles andere in ihm hinterlassen würde, war einen Moment lang so deutlich, als hätte er es längst getan. Aber er wollte nicht. Genau genommen wollte er auch das Gegenteil nicht — er wusste ja nicht einmal, worin es bestehen sollte —, und es schien ihm letztlich dieselbe Müdigkeit zu sein, die ihn gehen oder bleiben hieß. So oder so, es war alles ein Nullsummenspiel. Oder wie Kamphaus am Vortag gesagt hatte: Scheißspiel, was.
«Also gut: Noch zwei Fahrten.«
«Drei!«
«Daniel.«
«Drei, bitte, es dauert doch überhaupt nicht lange!«
Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte, glaubte er das Verdrehen ihrer Augen sehen zu können, dabei war es Daniel, der ihn einen kurzen Moment lang ansah. Eine seltsam kalte Härte vermochte dieser Junge in seine Kinderaugen zu legen, wie eine Warnung vor leichtfertiger Gegnerschaft.
«Drei. Aber dann verschwinden wir sofort von hier, ist das klar?«
«Und du wartest hier«, sagte ihr Sohn.
«Ich warte da vorne bei der Brücke. Mir ist das hier zu laut.«
Der Rest der Unterredung ging unter in der nächsten Ansage aus dem Kassenhäuschen. Weidmann machte ein paar Schritte in Richtung der THW-Brücke über die Lahn und überließ es Kerstin Bamberger, ob sie ihm folgen wollte oder nicht. Für einen Moment war es ihm gleichgültig, was sie tun würde, dann machte ihm das Geräusch ihrer Schritte klar, dass er gehofft hatte, sie werde kommen.
«Sie haben keine Kinder, hatten Sie gesagt.«
«Nein.«
«Dann wissen Sie auch nicht, wie anstrengend das manchmal sein kann. Kinder wollen das, was sie wollen, immer ein bisschen mehr, als ihre Eltern es nicht wollen, verstehen Sie?«Sie hatte zu ihm aufgeschlossen, als sie sich dem Rand des Festplatzes näherten, den Fluss hörten und die flache Brücke schemenhaft ausmachen konnten unter dem Blätterdach der Bäume.
«Ja«, sagte er.
Im Zelt erklang wieder ein Tusch, und kurz darauf mischte sich die Musik der Kapelle unter den Dampfmaschinenrhythmus des Rummels. Es waren nur wenige Schritte, dann wehte ihnen vom Fluss her ein kühler Hauch entgegen. Stille nistete in den Sträuchern entlang des Ufers, in den kleinen schilfbewachsenen Buchten. Schwarz und gleichmäßig schob sich die Lahn durch ihr Bett. Es war, als fiele hinter ihnen ein unsichtbarer Vorhang und hüllte alle Geräusche in Seide.
Bei der Brücke, hatte sie gesagt, trotz Daniels Protest, und insofern war wohl etwas nicht richtig an dem Satz, dass Kinder immer den stärkeren Willen besitzen. Bloß konnte sie in diesem Moment überhaupt keinen Willen in sich entdecken, nur das Verlangen nach Stille und einem Ende der Verstellung.
Den Kopf verdreht, den Schnabel im Nackengefieder vergraben, trieb eine Ente unter der Brücke entlang, und es war weniger die verquere Haltung des Vogels als die Sanftheit der Strömung, in der Kerstin sich selbst wiedererkannte.
Читать дальше