Deine (?) Rose. Obwohl er an jenem Abend trotz dreier Gläser Rotwein noch ins Auto gestiegen ist, sich mit dem Taschentuch ihren Lippenstift von der Wange gewischt und seither vier Mails unbeantwortet gelassen hat. Im Übrigen weiß er, dass sie Ursula heißt und Tierärztin ist. Auch das hat ihn abgestoßen: Der Gedanke, dass sie den ganzen Tag das Fell von Hunden und Katzen berührt, wenn auch von solchen, die Bad Homburger Witwen noch häufiger kämmen, waschen und sogar parfümieren als sich selbst. Er will mit keiner Frau das Bett teilen, die ihre Tage mit Tieren verbringt.
Dass auch die zweite Dame nicht seinem Geschmack entspricht, erkennt er schon am gekünstelt flotten Hey! der Anrede. Wer so loslegt, hat entweder zu viel zu verbergen oder zu wenig vorzuweisen. Weidmann klickt auf Löschen und geht zurück in die Küche, um sich noch ein Brot zu holen. Geschirr vom Wochenende trocknet weißfleckig im Sieb neben der Spüle. Im Schnitt beantwortet er jede zehnte Mail und trifft sich im Jahr mit fünf oder sechs Frauen. Verbringt einzelne Nächte in Hotels oder fremden Apartments, manchmal, wenn die Chemie stimmt, ein Wochenende am Meer oder in der Pfalz. Meistens jedoch schlägt die Erwartung in Ernüchterung um wie ein aus dem Wind gedrehtes Segel. Ein Moment der Spannung und der Nacktheit, wenn aus dem Alias der E-Mails ein echter Name wird; die Schonungslosigkeit der ersten Blicke, der Vergleich mit schmeichelhaften Fotos, der hinter stillem Lächeln versteckte Vorwurf des Betrugs. Oder im anderen Fall Erleichterung, innerliches Aufatmen, mühsames Zurückhalten von Vorfreude. Nicht zu viel setzen auf eine gerade erst begonnene Partie. Alles in allem ist es ein Spiel für Verlierer.
Bevor er zurückkehrt ins Wohnzimmer, wirft er einen Blick auf die Anzeige des Telefons. Es hat geklingelt, aber die Nummer wird nicht angezeigt. Der Anrufbeantworter vermeldet eine rot blinkende Null.
Ein Spiel für Verlierer, aber besser als Einsamkeit. Und viel besser, als in Bergenstädter Kneipen nach Frauen zu suchen. Es ist ein Ersatz für etwas, worauf er nach Konstanze aufgehört hat zu hoffen und woran er vielleicht schon vor Konstanze aufgehört hatte zu glauben, etwas wofür ihm also von jeher die Begabung fehlt. Manchmal fühlt es sich für begrenzte Zeit sogar gut an. Spannend, auch entspannend. Außerdem haben die Treffen ihn mit einer anderen, unerwarteten Begabung bekannt gemacht, und das soll man, sagt er sich, nicht unterschätzen, jenseits der Vierzig noch eine neue Qualität an sich zu entdecken. Er kann zuhören. Nicht nur den Mund halten, sondern wirklich zuhören. Ein Sinn für Timing gehört dazu, die langsamen Schlucke aus dem Weinglas, während sie nach Worten oder dem Taschentuch sucht. Zum richtigen Zeitpunkt zu lächeln ist wichtig und noch wichtiger, die viel attraktivere Frau am Nachbartisch nicht zu bemerken. Er hat sein Talent entdeckt und genutzt. Eine ähnliche Begabung wie beispielsweise das Tanzen: Führen, ohne auf die Füße zu treten. Und wenn die Musik verklungen ist, im richtigen Tonfall zu sagen: Gehen wir?
›Charles B.‹ lautet der Betreff der dritten Mail. Sein falscher Name, so lächerlich wie irgendein anderer, aber das gehört dazu. Man nennt sich anders, gibt sich anders, genießt die Leichtfertigkeit des Virtuellen. Wie Pokern mit Falschgeld, hat ihm mal eine Frau gesagt. In seinem Fall handelt es sich um eine Reminiszenz an das, was er früher gerne gelesen hat und jetzt immer noch mag, aber nicht mehr liest. Er liest immer weniger. Langweilt sich immer mehr.
Sie nennt sich Viktoria und schreibt:
Cher Monsieur,
ich erlaube mir, Sie einen Monsieur zu nennen, weil Ihr Name mir eher ein frz. ›Scharrl‹ zu sein scheint denn ein engl. ›Tschahls‹ und weil ich vermute, dass er aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, als es noch echte Messieurs gegeben haben soll — wiewohl der von Ihnen zum Namensgeber Erhobene allgemein nicht zu ihnen gerechnet wird. Oder täusche ich mich? Heißen Sie am Ende wirklich Charles (so wie ich tatsächlich Viktoria heiße)?
Wenn Sie gestatten, würde ich das gerne herausfinden — Sie brauchen es also nicht gleich zu offenbaren. Es gibt da einen Ort, an dem ein Bohemien wie Monsieur B. sich vielleicht wohl gefühlt hätte. Und Sie auch, wenn Sie denn wirklich so mutig sind wie Ihre Namenswahl zu glauben nahelegt.
Sind Sie mutig, mein lieber Scharrl? Oder wenigstens neugierig? Connais-tu, comme moi, la douleur savoureuse …?
Schreiben Sie mir, und wir werden sehen.
Au revoir,
V.
Weidmann lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als müsste er die Zeilen aus größerer Entfernung betrachten. Vielleicht liest er keine Romane mehr, weil diese Tarnkappen-E-Mails fremder Frauen seiner Phantasie ausreichend Nahrung bieten. Dahinter stehen schließlich Autorinnen, mit denen sich vielleicht schlafen lässt. Jedenfalls gefällt ihm das ›Sie‹. Ihm gefällt eigentlich alles, was er liest, vor allem die Dezenz, die unausgesprochen lässt, was nicht ausgesprochen werden muss. Ist er mutig? Gute Frage, die hat er sich so nie gestellt. Jedenfalls geht ein Kribbeln durch seine Fingerspitzen, und anstatt die Fotos auf ihrer Portalseite anzuschauen, versucht er sich zu erinnern, aus welchem Gedicht die französische Zeile stammt. Nachdem er die Mail drei Mal gelesen hat, schaltet er den Computer aus.
So einfach ist das, wie ein Selbstbetrug mit offenen Augen: Eine Woche lang, vielleicht zwei oder drei, wird der Gedanke an die rätselhafte Viktoria ihn begleiten durch die Unterrichtspausen am Vormittag und die Spaziergänge am Nachmittag. Aus dem Stoff ihrer E-Mails und mit den Mitteln seiner Phantasie wird er sich ein Wesen erschaffen, das verlockend genug ist, um seinetwegen jenen Ort aufzusuchen, von dem sie in ihrer Mail gesprochen hat. Dann ein Treffen, und dann — entweder oder. Früher oder später. Es ist ein Zeitvertreib, mehr nicht.
Das Klingeln des Telefons reißt ihn aus seinen Gedanken. Der Spaziergang fällt ihm wieder ein. Weidmann räuspert sich laut und hebt ab.
«Weidmann.«
«Guten Tag, Herr Weidmann. Werner hier, die Mutter von Daniel. «Sie spricht leise, beinahe schuldbewusst leise. Und er spürt voller Überraschung, wie seine Hände feucht werden.
«Guten Tag«, sagt er.
Sie hat so lange mit ihrem Rückruf gewartet, dass sie ihn schließlich nicht nur mit der Angst vor schlechten Nachrichten anruft, sondern obendrein mit der Befürchtung, seinen Unwillen erregt und damit schlechte Nachrichten provoziert zu haben. Anders formuliert: Sie gibt ihm die Chance, ihre Dankbarkeit zu gewinnen.
«Sie müssen entschuldigen, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.«
«Überhaupt kein Problem, Frau Werner.«
«Es ging nicht eher. «Sie macht eine Pause.»Gibt es Neuigkeiten? Ich meine: Wissen Sie jetzt mehr als in der letzten Woche?«
«Etwas mehr. Wollen Sie’s am Telefon besprechen?«
«Nein. Sehen Sie, ich habe meine Mutter im Haus und muss entweder lange im Voraus planen oder Möglichkeiten ergreifen, wenn sie sich bieten. Gerade habe ich sie zum Arzt gefahren. Ich hatte es vorher schon einmal versucht, es tut mir wirklich leid, dass ich Sie in der Mittagspause anrufe.«
«Ich bin wach.«
«Jedenfalls hätte ich genau jetzt zwei Stunden Zeit.«
«Sehr gut«, sagt er und weiß nicht, ob er das Gleiche auch denkt.
«Ja?«Sie scheint nebenher etwas zu notieren oder hantiert mit einem Gegenstand, oder vielleicht ist es auch nur ihre Nervosität.»Ich hatte befürchtet, dass Sie … Aber gut. Gilt Ihr Angebot noch, bei mir vorbeizukommen? Irgendwann wird die Praxis anrufen, weil meine Mutter geholt werden muss, und man hat dort meine Handynummer nicht.«
«Ich denke, ich mache mich sofort auf den Weg.«
«Vielen Dank.«
«In einer Viertelstunde?«
«Vielen Dank, wirklich. Sie wissen, wo ich wohne?«
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