«Hören Sie«, setzte sie an.
«Nein«, sagte er leise.
Sie spürte seine Hand nach ihrer greifen und suchte mit der anderen nach Halt am Brückengeländer. Der Ärger, den sie den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt hatte, wallte wieder in ihr auf. Thomas Weidmann war so abrupt stehen geblieben, wie er die Nonchalance seines Tonfalls abgeschüttelt hatte, und ließ sie einfach auflaufen. Bier und Rasierwasser, zwei schale Duftnoten seiner Männlichkeit, füllten den sehr engen Raum zwischen ihnen. Ich bin selbst nicht mehr ganz nüchtern, sagte sie sich. Seine Hand lag jetzt auf ihrer Taille. Für einen Moment konnte sie sich nicht entscheiden, mit welchen Worten sie ihrem Ärger Luft machen sollte und worüber genau sie sich eigentlich ärgerte. Diffus und geradezu aufreizend passiv entwand sich das Gefühl der Verstimmung ihrem Griff. Was sie stattdessen zu fassen bekam, war Weidmanns Hintern. Ein eher flacher Akademikerhintern.
Sie waren alleine. Blickten einander an. Nur mit den Augenbrauen kommentierte sie das Tun seiner Hand, das Tasten nach Haut über dem Bund ihrer Hose. Eine absurde Art von Folgerichtigkeit schien ihr in alldem zu liegen.
«Sie wollen das nicht wirklich«, flüsterte sie.
Der Kuss glich einem Wühlen nach dem Grund ihres Tuns. Beharrlich, aber ohne Hast. Ihre Hände suchten an seinem Rücken, am Nacken, wieder am Hintern — sie fand nichts. Sie hatte auch nicht erwartet, etwas zu finden. Weder auf seinen Lippen noch auf seiner Zungenspitze lag eine Antwort, und am stärksten empfand sie das Ausbleiben jeder Überraschung, ihre kühle Kenntnisnahme dieser Sinnlosigkeit. Warum küsse ich ihn, fragte sie sich und ließ seine Zunge ein Stück weiter vor. Die Erektion, die sich gegen ihren Schoß drückte, überging sie wie einen wenig sachdienlichen Hinweis, maß mit den Händen die Breite seiner Schultern und spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Die Bohlen der Brücke knarrten unter ihren Füßen.
Gegen seinen Griff nach ihrer Brust verstärkte sie die Umarmung. Nichts, was er tat, war ihr unangenehm, sie glaubte bloß zum ersten Mal in ihrem Leben zu wissen, wie Frigidität sich anfühlt. Seine Lippen waren nur Lippen, seine Hände nur Hände, seine Zunge nur feucht. Sie hörte die Musik aus dem Zelt und das Fließen der Lahn und warf einen Blick auf ihre innere Uhr: Die erste Runde Autoskooter ging gerade zu Ende.
Ihre Gedanken trieben stromabwärts. Zum ersten Mal seit dreizehn oder vierzehn Jahren küsste sie einen anderen Mann als den eigenen, und es fühlte sich ungefähr so an wie die Betrachtung der Kopie eines bekannten Gemäldes: Man schaut darauf, findet keinen Unterschied, und dennoch fehlt was. Zu glatt alles, die Linien zu schnell gezogen und statt Phantasie nur Fingerfertigkeit. Weidmann küsste nicht schlecht, aber auf der Oberlippe vermisste sie die sanfte Reibung eines Bartes. Wie Betrug allerdings fühlte es sich nicht an, Betrug konnte niemals so vergeblich sein. Wahrscheinlich hatte Jürgen mit zitternden Fingern nach diesem jungen Ding gegriffen, besoffen vom Duft jugendlicher Haut, von der Straffheit blühender Formen. Männer wurden nie erwachsen, das galt für den, den sie gerade küsste, mindestens so sehr wie für den, den zu küssen sie seit gestern Abend kein Verlangen mehr hatte. Oder schon Verlangen, aber keine Bereitschaft, ihm nachzugeben.
Thomas Weidmann brauchte nicht lange, um die Vergeblichkeit seines Tuns einzusehen. Seine Griffe, Küsse, der Druck seiner Lenden, es ließ alles zugleich an Intensität nach, und als zum zweiten Mal seine Hand über ihre Brust fuhr, hatte sie nicht einmal mehr das Gefühl, ihn abwehren zu müssen. Als hätte das Fehlen ihrer Erregung die seine einfach erstickt. Kurz bevor die Lippen sich lösten, fand sie den Kuss zum ersten Mal schön.
Hat gar nicht weh getan, dachte sie albern, als es vorbei war. Sie hielt seinen Kopf mit beiden Händen und hätte ihm beinahe einen Kuss auf die Stirn gegeben.
Bedeutet das, dass ich monogam bin, fragte sie sich. Seinen Rückzug, das Sinken seiner Arme beantwortete sie mit einem festen Griff um seine Taille. Er war angenehm groß, größer als Jürgen, beinahe hätte ihr Kopf unter sein Kinn gepasst.
«Was genau soll ich jetzt tun?«fragte er.»Mich entschuldigen?«
Sie nutzte ihr Kopfschütteln, um sich enger in die Umarmung zu nesteln. Nach dem Grenzgang, hatte er erzählt, musste er sofort zurück nach Berlin, und sie wünschte, dies wäre der dritte Tag des Festes und nicht der erste und sie könnte ihm gleich einen letzten Kuss geben, im Wissen, ihn nie wiederzusehen. Unentschlossen legten sich seine Hände auf ihren Rücken. Sie hätte gerne getanzt jetzt, langsam und müde, aber sie wollte nicht kitschig werden.
Die zweite Runde Autoskooter, mahnte eine innere Stimme.
«Nur einen kurzen Moment noch, wenn’s Ihnen recht ist. «Sie war überrascht von dem plötzlichen Bedürfnis, an Weidmanns Schulter gelehnt einzuschlafen. Noch einmal drückte sie ihn an sich, dann ließ sie los. Er zuckte die Schultern, zupfte an seinem Hemd, sah ihr nur kurz ins Gesicht. Im Schilf schnatterte eine Ente. Die schwarze Farbe des Flusses sah aus wie eine Ölschicht, die auf der Oberfläche trieb.
Sie sah zum Festplatz, aber da zeigte sich niemand im bunten Gegenlicht des Rummels. Halb zehn war die Zeit, da niemand mehr kam und noch niemand nach Hause ging.
Es gab keine Zeugen, also war nichts passiert.
«Ich weiß nicht, wo Sie wohnen«, sagte Weidmann hinter ihr,»aber ich nehme an, wir haben nicht denselben Heimweg.«
«Nein. «Sie drehte sich um. Weit hinter ihm leuchtete eine einsame Laterne neben einer leeren Bank. Da war bereits zu viel Raum zwischen ihnen für eine letzte Umarmung.
«Dann auf Wiedersehen.«
«Gute Nacht. «Sie sah ihm nicht nach, sondern trat aus dem Dunkel der Trauerweiden hinaus auf die Wiese und richtete ihre Bluse. Von der anderen Seite der Lahn betrat jemand die Brücke, und sie ging mit verschränkten Armen hin und her, wie auf einem leeren Bahnsteig. Atmete tief durch. Den ersten Tag hatte sie geschafft. Nicht mit Auszeichnung, aber geschafft. Ein Lächeln im Gesicht und einen Gruß auf den Lippen, drehte sie sich schließlich um, als die Schritte hinter ihr näher kamen. Für eine Sekunde erwartete sie Weidmann auf sich zukommen zu sehen, dann knallte Daniels Blick ihr mit einer Wucht ins Gesicht, die sie ins Taumeln brachte.
Er stand genau da, wo sie Weidmann zuletzt gesehen hatte, in der Mitte der Brücke. Sein Kopf lag im Schatten, so dass sie den Blick gar nicht sehen konnte, der sie so plötzlich traf. Nur die nackten hellen Waden unter seinen Bermuda-Shorts und die Unterarme, wo das T-Shirt endete. Dann die Augen und danach erst das Fehlen kindlichen Zorns, den sie instinktiv erwartet hatte. Trotzdem konnte sie nichts sagen. Wie gelähmt stand sie auf der Wiese, fühlte ihr Herz schlagen und ein riesiges Netz auf sich niedersinken, mit so feinen Maschen, dass nichts ihm entging.
* * *
«Also, um ehrlich zu sein …«So schwer es ihr fällt, sie zwingt sich, die Verschränkung ihrer Arme zu lösen.»Ich weiß nicht, was für ein Verhältnis mein Sohn zu seinem Vater hat. Wir sprechen darüber nicht.«
Dann nimmt sie die Arme wieder hoch.
«Und wenn Sie wissen wollen, was für ein Verhältnis ich zu meinem Sohn habe — das weiß ich auch nicht, denn darüber sprechen wir ebenfalls nicht.«
Ohne den Schutz ihrer Arme lässt sich dergleichen einfach nicht sagen.
«Aber ziehen Sie daraus bitte keine falschen Schlüsse. Mit Sechzehnjährigen ein Gespräch zu führen, das ist …«Sie deutet ein Nicken an und holt tief Luft und findet, dass ihre Lippen schmal und blutleer wirken, wenn sie sie aufeinanderlegt.
«Sie können mir vorwerfen, meinen Sohn zu sehr zu lieben. Ich weiß, dass es das gibt, und vermute, ein solcher Fall liegt hier vor. Aber wissen Sie, dass man viel seltener eine Wahl hat als das Gefühl, man hätte sie?«
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