«Durchblutungsstörung des Gehirns«, erwidert ihre Mutter.»Deshalb kann ich mir auch nichts mehr behalten, ja. Ich schreib alles auf.«
«Müsste ich eigentlich auch, aber bei mir kommt zur Vergesslichkeit noch die Faulheit dazu. So, bitte.«
Kerstin kippt die Essensreste in den Müll und wäscht sich die Finger, entfernt ein paar Erdreste unter den Nägeln mit der Geschirrbürste, sieht an sich hinab und zuckt die Schultern. Es spricht nichts dagegen, an einem Montagabend in der eigenen Küche Jeans und Strickpulli zu tragen. Und soweit sie es in der Küchenfensterscheibe ausmachen kann, ist ihr Haar in Ordnung.
«Nein, danke«, sagt Frau Preiss in der Diele.»So spät lieber nicht mehr.«
«Um halb zehn geh ich ins Bad, ja. Später nicht. Muss ja morgens früh raus und im Gemeindehaus mithelfen.«
«Ah ja.«
«Wenn Beerdigungen sind oder Basar. Der Pfarrer kann nicht alles alleine machen.«
«Das ist … ja. Kann er wohl nicht.«
«Kennen Sie eigentlich die Männer, die hier nachts immer herkommen?«
«Bitte?«
Natürlich! Kerstin eilt aus der Küche herbei und stellt sich wie ein Schiedsrichter zwischen die beiden Frauen am Tisch.
«Mutter, du solltest dich bei Frau Preiss für die schönen Pralinen bedanken statt sie …«Fast augenblicklich spürte sie einen leichten Schweißfilm unter den Armen und ist Frau Preiss dankbar für ihr unauffälliges Abwinken.
«Wir unterhalten uns, ja. Da muss ich doch wissen, mit wem ich’s zu tun hab.«
«Mit Frau Preiss, die eine Straße über uns wohnt und so nett ist uns zu besuchen. Und dir was mitzubringen.«
Frau Preiss’ Hände liegen perfekt manikürt in ihrem Schoß. Ihr Blick scheint die Veilchen in der Vase zu fixieren, so als spürte sie instinktiv, dass sich um diese Blumen ein Geheimnis rankt. Kerstin presst ein Lächeln in ihr Gesicht.
«Wollen Sie gleich den Wein oder erst was anderes? Wasser? Einen grünen Tee?«
«Der Wein muss ja atmen, sagt mein Mann in solchen Fällen. Ich nehm Ihnen das ab. «Mit der Käseplatte, die Kerstin gerade nehmen wollte, steht sie auf, unterbindet lächelnd Kerstins Protest und geht voran in die Küche.
«Dann setz ich uns Tee auf. «Sie weiß nicht, ob sie Frau Preiss’ Verhalten zuvorkommend oder aufdringlich finden soll. Es kommen nie Gäste zu ihr ins Haus, von Dr. Petermann und der Badewumme abgesehen. Plötzlich weiß sie nicht recht wohin in ihrer eigenen Küche, in der Frau Preiss vor dem Fenster steht und sagt:
«Es muss Ihnen nicht unangenehm sein. «Fragend deutet sie mit der Platte Richtung Kühlschrank.
«Einfach diese helle Haube da drauf. Sie meinen die Bemerkung mit den Männern?«
«Alte Menschen sind so. Es muss Ihnen nicht peinlich sein.«
«Nett von Ihnen, das zu sagen. Vor ein paar Wochen ging es plötzlich los mit dieser Männer-Paranoia, und seitdem vergeht kein Tag, an dem sie nicht glaubt, nachts irgendwelche Schritte im Haus zu hören. Und wenn Sie jeden Tag mit dem gleichen Unsinn konfrontiert werden, werden Sie irgendwann ärgerlich, wissen aber, dass Ihr Ärger ungerecht ist, und sofort schlägt das um in Ärger über sich selbst oder schlechtes Gewissen und so weiter.«
«Ein Teufelskreis.«
«Wahrscheinlich ist es ganz natürlich, und ich kann mich bloß nicht dran gewöhnen. «Sie hört, wie ihre Mutter noch einmal mit der Pralinenpackung raschelt und sich daranmacht, vom Tisch aufzustehen. Der Schemel, auf den sie ihr Bein stützt, kratzt über den Parkettboden.
«Meine Mutter wohnt seit Jahren im Pflegeheim. MS. Steht kaum noch aus dem Bett auf. «Frau Preiss wendet sich vom Fenster ab.»Wo ist die Spülmaschine?«
«Es gibt keine.«
Für einen Moment schließt Frau Preiss die Augen. Das Blau ihres Lidschattens erinnert an Schmetterlingsflügel, an Flieder, an Sommerduft im Garten. Aber zu den Haaren passt es nicht.
«Meine Tochter sagt immer: Mama, es ist leicht, dir auf der Spur zu bleiben, man muss nur nach den Fettnäpfchen Ausschau halten. Was mache ich überhaupt hier in Ihrer Küche?«
«Ihre Tochter ist wirklich ein bisschen frech.«
«Kennen Sie dieses Gefühl? Abgehängt zu werden von den eigenen Kindern? Ich meine, sie werden nicht einfach erwachsen, sie holen nicht bloß auf, sondern kennen sich besser aus. In unserer Zeit, verstehen Sie?«
«Zum Beispiel?«
«Zum Beispiel …«Frau Preiss hat die Augen wieder geöffnet.»Ein blödes Beispiel, werden Sie mit Recht sagen, nur fällt es mir gerade ein. Neulich, wir sitzen — was selten vorkommt — zu dritt beim Abendbrot. Irgendwie, wahrscheinlich von meiner Tochter, kommt das Stichwort Pärchenclub. Es ging eigentlich um Fernsehen und so weiter. Ja, Sie wissen, was so ein Pärchenclub ist?«
«Vermutlich hab ich davon gehört.«
«Sehen Sie, und ich nicht. Also sage ich zu meinem Mann, na ja, irgendwas von wegen: Hans-Peter, wir könnten doch auch mal wieder was zusammen unternehmen. Vielleicht in so einem … Ich hatte eben einen Freizeitclub vor Augen, Sport, Tanzen, gemeinsame Aktivitäten. Und meine Tochter fällt natürlich vor Lachen vom Stuhl.«
«Verständlich. Verzeihung, ich meine: aus ihrer Sicht.«
«Ja. Und dieses Gefühl meinte ich: von gestern zu sein.«
«Ich weiß nicht. «Ihre Blicke begegnen sich. Frau Preiss ist zu elegant für diese enge, abgenutzte Küche mit den braun eingefassten Schrank- und Schubladentüren, dem winzigen Ecktisch mit seinen Stapeln alter Zeitungen und den Nippes auf der Fensterbank. Seit Wochen nimmt Kerstin sich vor, in die Deckenlampe eine stärkere Birne zu drehen, und jetzt schimmert dieses Dämmerlicht in Frau Preiss’ Haaren und lässt ihre Haut dunkler aussehen.
«Wirklich, Sie müssen mich entschuldigen. Da stehe ich in Ihrer Küche und spreche von Pärchenclubs. Meine Tochter hat ganz einfach Recht mit diesen Fettnäpfchen.«
Schlurfende Schritte nähern sich der Küche. Kerstin zuckt die Schultern, und in das kurze Schweigen hinein meldet sich das merkwürdige Verlangen, Frau Preiss zu umarmen.
«Sie können die Sachen in die Spüle stellen. Ich mach das später.«
«Ich kann rasch abwaschen.«
«Kommt nicht in Frage. Mögen Sie grünen Tee? Eine Freundin hat mir den aus Japan mitgebracht.«
«Wie nett. In der Zwischenzeit könnte ich ja schon mal den Wein öffnen. Gibt es … ich meine, wo haben Sie den Flaschenöffner?«
«Gibt es leider auch nicht. Ich schlag immer einfach den Hals ab. «Aus den Augenwinkeln sieht sie ihre Mutter in der Tür auftauchen, aber ihr Blick ist auf Frau Preiss gerichtet, die erschrocken aussieht, beide Hände erhoben wie bei einer plötzlich abgebrochenen Pantomime.»War nur ein Witz«, sagt sie.»Verzeihung. Da hinter Ihnen an der Wand hängt er.«
Frau Preiss’ Lachen erinnert sie an Anitas, es ist kehlig, hell und eine Spur zu laut. Nur hätte sich Anita nicht die Hand auf den Mund gelegt und entschuldigend zu Kerstins Mutter geblickt.
Mit einer Hand fasst Liese Werner an den Türrahmen, in der anderen hält sie einen halbvollen Tupperbecher, zitternd und nach vorne geneigt wie eine Spendenbüchse der Heilsarmee.
«Muss da noch Medizin rein?«
«Ja. Lass mir den Becher hier. Ich mach die Tropfen rein und bring ihn dir.«
«Durchblutungsstörungen des Gehirns«, sagt ihre Mutter zu Frau Preiss gewandt.»Und immer viel Schmerzen. Kopfschmerzen vor allem. Aber man tut, was man kann, ja.«
«Glück haben Sie, dass Sie so gut versorgt werden hier.«
«Was ich mir nicht behalten kann, schreib ich auf.«
«Lass einfach den Becher hier stehen, Mutter.«
«Bitte?«
«Den Becher.«
«Da müssen noch Tropfen rein.«
«Ich bring sie dir sofort.«
Gemeinsam sehen sie ihrer Mutter nach, wie sie zurück durch die Diele geht, mit Schritten, als wöge jeder Schuh zehn Kilo.
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