Wort für Wort tastete er sich durch den ersten Satz. Er mühte sich, hervor aber quollen bloß Laute, Laute jenseits des Menschlichen, ein Geleiere, das zum Kichern, Lachen und Prusten reizte. Titus erschrak. Sie lachten über ihn. Nur Joachim und Petersen fixierten ihn finster. Er würgte an jeder Silbe, seine Zunge vollbrachte Kunststücke, die Stimmbänder jedoch blieben unbeherrschbar. Wieder Lachen. Erst jetzt bildete sich langsam der erste Satz.
Petersen brüllte. Titus begriff nicht, warum. Nicht er, die Klasse lachte! Was konnte denn er dafür?
Die Klasse schwieg wie erstarrt, Joachim kippelte. Petersen stand vor Titus, und Titus konnte sehen, wie Petersens Worte dessen Mund verzerrten.
Aus der Ferne, wie das Glockengeläut, das gerade einsetzte, erreichte Titus eine Ahnung, die, je deutlicher sie wurde, seine Züge entspannte, bis sich ein Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete, ein ganz feines Lächeln. Allmählich verstand Titus, warum Petersen so wütete. Und mit dieser Erkenntnis kam noch eine andere, eine, die er nicht zu benennen wußte, die hell war und licht und die schwarzen Schatten von seiner Seele vertrieb.
Petersen redete weiter. Sein Speichel traf ihn am Kinn. Titus nahm die Arme auf den Rücken. Sein Körper war leicht und gespannt, von keiner Anstrengung zu erschöpfen. Er würde singen, er würde zusammen mit dem Maestro Sanddorn singen. Und er würde Gunda Lapin Modell sitzen, ihr zuhören, ihr erzählen.
Titus sah die windschiefen Wolken, ein weißliches Gelb und dunkles Blaugrau. Bei der Vorstellung, daß ihm die Knie gezittert hatten, lachte er auf. Er würde Bernadette von seinen zitternden Knien erzählen, um sie aufzuheitern. Und in der Art, wie er über sich selbst sprach und lachte, würde auch sie verstehen, was er eben verstanden hatte.
Titus legte die drei Blätter übereinander, faltete sie sorgfältig zusammen und begab sich, wie von Petersen gefordert, zurück auf seinen Platz.
Mitternacht war schon lange vorbei, aber der Gefreite Türmer konnte nicht schlafen. Auf das Lenkrad gestützt, fixierte er den Thermostat seines SPWs. Der Zeiger näherte sich dem roten Feld. Der Gefreite Türmer fragte sich, ob er den Mut aufbringen würde, ein Partisan, ein Agent, ein konsequenter Kriegsgegner zu sein und die Motoren des SPWs so heiß laufen zu lassen, daß sich die Kolben festfräßen. Doch jedesmal wenn der Zeiger das rote Feld überquerte, hatte der Gefreite Türmer die Kurbel betätigt und die Jalousien über den Motoren geöffnet. Und jedesmal war die Temperatur sofort gesunken und der Zeiger in die Senkrechte zurückgekehrt.
In den ersten Wochen nach seiner Einberufung hatte sich der Gefreite Türmer, der damals noch Soldat gewesen war, Vorwürfe gemacht, weil er das Soldatendasein gar nicht so schlecht gefunden hatte. Er hatte nichts auszustehen gehabt. Und sobald er im SPW am Lenkrad saß, war er froh gewesen. Fahren machte ihm Spaß. Und er liebte sein Gefährt, sein Nilpferd, mit dem ihm kein Weg zu steil oder zu sandig war und in dem er sogar über die Elbe schwimmen konnte.
Der Gefreite Türmer fand keinen Schlaf. Seine Hände lagen gefaltet im Schoß, sein rechter Fuß, vor dem Gaspedal auf die Ferse gestellt, war nach rechts gedreht, das linke Bein angezogen, alles wie immer, wenn er wartete. Die meiste Zeit seines anderthalbjährigen Grundwehrdienstes hatte er gewartet. Aber diese Nacht war seine letzte im Feldlager. Morgen würden sie zurück ins Regiment fahren — sozusagen nach Hause —, und dann wären es keine zwei Wochen mehr bis zur Entlassung. Ihn selbst überraschte die Wehmut nicht, die er bei diesem Gedanken empfand. Er hätte sich gern unterhalten. Er liebte es, mit den anderen Fahrern zusammenzustehen, zu rauchen und zu reden, während die Gruppen über den Acker rennen mußten.
Der Gefreite Türmer reckte sich. Die Lehne seines Sitzes hatte links eine Mulde. Andere Fahrer nannten das einen» Krüppelsitz«. Der Gefreite Türmer aber hatte den Fahrersitz bequem gefunden und die Mulde im Laufe seiner Dienstzeit weiter vertieft. Die Lehne war zu seiner Lehne geworden, wie auch die Fahrerhaube zu seiner Fahrerhaube geworden war. Überhaupt fühlte er sich im SPW wohl.
Der Gefreite Türmer hörte das Atmen seiner Gruppe, die wie eine Großfamilie auf den Abdeckblechen lag oder schräg auf der vorderen Bank oder auf dem Boden, unter dem Sitz des Richtschützen. Auf dem Sitz neben dem Gefreiten Türmer schlief Unteroffizier Thomas, sein Gruppenführer, den Kopf mit dem Stahlhelm gegen die Wand des SPW gelehnt. Ihn würde man für die zerstörten Motoren verantwortlich machen und nach Schwedt ins Militärgefängnis stecken. Denn Unteroffizier Thomas hätte dem Gefreiten Türmer verbieten müssen, den Motor anzulassen, ganz egal wie sehr die Gruppe fror — Mitte April waren die Nächte noch kalt, zumindest im Wald; die Pfützen in den Spurrinnen waren morgens von einer dünnen Eisschicht überzogen. Aber kein Fahrer ließ seine Leute frieren.
Der Zeiger erreichte die Mitte des roten Feldes. Die Hände des Gefreiten Türmer strichen von oben herab das Lenkrad entlang, bis sie sich über seinem Schoß berührten. Mit der Rechten bedeckte er die Radnabe und hätte beinah auf die Hupe gedrückt. Wie oft hatte er so den Vorausfahrenden gewarnt, wenn dieser von der Straße abkam. Er selbst war auf die Aufmerksamkeit des hinter ihm Fahrenden angewiesen, falls er einnickte.
Denn wer stundenlang die roten Rückleuchten als einzige Orientierung hat, wird davon hypnotisiert. Er hatte Bahnübergänge oder haushohe Schrotthaufen halluziniert — und dann die Luke über seinem Kopf aufspringen lassen, um von der Kälte wach gerüttelt zu werden, er hatte sich beschimpft und ins Gesicht geschlagen. Trotzdem wollte er nichts anderes sein als Fahrer. Allein die Fahrer durchwachten die endlosen Nächte, während alle anderen schliefen, eingelullt von dem Rattern und der Wärme der Motoren. Der Gefreite Türmer war regelrecht betroffen, ja gerührt gewesen, wie fraglos die anderen ihm von Beginn an vertraut hatten, als wäre es selbstverständlich, daß er dieses tanzende, schlingernde Schiff sicher durch die Nacht steuerte. Darin hatte der Stolz der Fahrer seinen Ursprung. Sie waren wie Väter zu ihren Familien, sie, die Fahrer, waren es, die der Gruppe Geborgenheit schenkten.
Der Gefreite Türmer mußte sich nicht nach ihnen umdrehen. Das leise Schnarchen gehörte zu dem Soldaten Sommer, das Wimmern zu dem Gefreiten Kapaun, ein Wimmern, das so gar nicht zu dessen Bärenstatur und Lachen passen wollte. Soldat Petka, der mit seinem hutzligen Gesicht und dem Stahlhelm aussah wie ein Pilz, lachte manchmal im Schlaf. Nein, nie
[Brief vom 11. 7. 90]
würde er es über sich bringen, sie zu verraten und der Armee zu schaden. Nicht weil er es geschworen hatte, das wäre lächerlich, nein, der Gefreite Türmer war dankbar, weil bei der Armee — ob man das nun wahrhaben wollte oder nicht — alles an seinem Platz war. Der Gefreite Türmer mußte pinkeln. Er kurbelte die Jalousien über den Motoren auf. Dem Schalter gab er einen Klaps, so daß die Motoren verstummten. Er zog die neuen Stiefel an, die der Schreiber ihm verschafft hatte. Sie waren etwas zu groß, nur ein oder zwei Nummern. Aber das machte nichts.
Der Gefreite Türmer drehte den Lukengriff über seinem Kopf und stemmte sich, die Stiefel schon auf dem Sitz, nach oben. Den Hintern auf dem Lukenrand, zog er die Beine an und drehte sich heraus, drückte mit den Fingerkuppen die Luke herab, verschloß sie vorsichtig und ließ den kostbaren Vierkant lautlos in die rechte Beintasche gleiten. Er tastete hinab zum Fußlauf und hockte sich hin. Er hatte ein paar Lichter erwartet, zumindest im Zelt für die Wachen. Wie sehr wünschte er sich jemanden, mit dem er rauchen und reden konnte. Und vielleicht auch etwas trinken.
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