Lisa Holtzheimer
Neues Leben für Stephanie
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Titel Lisa Holtzheimer Neues Leben für Stephanie Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Stephanie schaute sehnsüchtig aus dem Fenster. Strahlender Sonnenschein über den nahen Bergen ließ sie sogar ihr seit Tagen anhaltendes Heimweh vergessen und lockte sie in den Schnee am Fuß der Berchtesgadener Alpen. Leider hatte ihr Dienst auf der chirurgischen Station im dritten Stock der kleinen örtlichen Klinik gerade erst begonnen; und wenn sie Feierabend machen konnte, würde es lange dunkel sein. Erst am Mittwoch war ihr nächster freier Tag. Bis dahin blieben ihr nur ein paar Stunden am Vormittag, um den Schnee zu genießen.
„Immerhin, davon gibt es hier genug – ganz im Gegensatz zu Hamburg“, dachte sie. Dort war es immer nur matschig und grau in grau. „Eigentlich verrückt, sich dorthin zurückzusehnen.“ Doch manchmal liefen Verstand und Herz eben doch gegeneinander. Ihre Freunde aus der Hansestadt fehlten ihr nach ihrem Umzug sehr und noch fühlte sich Stephanie ziemlich einsam hier im südlichsten Zipfel Deutschlands. Bisher beschränkten sich ihre Kontakte auf ihre Kolleginnen, den Friseur und die Verkäuferinnen im Supermarkt.
Sie ließ ihre Blicke weiter über die Berge schweifen und wusste aus Erzählungen ihrer Kollegen, dass sich am Jenner in der Saison unzählige einheimische und mindestens ebenso viele Urlaubs-Skifahrer tummelten. Ski fahren – ob sie sich das jemals trauen würde? Als bisher absolut überzeugtes Nordlicht hatte sie sich nie näher für diesen Sport interessiert, aber hier war alles so greifbar nahe, dass man tatsächlich einen anderen Blick dafür bekam. Unendlich viele Menschen trieben sich gerade in dieser Jahreszeit Ende Februar hier herum, aber Kontakte knüpfen war trotzdem nicht so einfach. Die meisten waren Urlauber, Touristen, die eine, zwei oder auch drei Wochen den Schnee genießen wollten, den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf der Skipiste verbrachten oder dem munteren Treiben an der Königssee-Bobbahn zuschauten. Abends irgendwo ein bisschen apres Ski, dann fielen sie wie tot in ihre Hotelbetten, erschöpft von der ungewohnten Bewegung an der frischen Bergluft.
„Naja“, dachte Stephanie halblaut, „jemanden von den Touristen kennen zu lernen, nützt mir ja auch nichts. Der ist gleich wieder weg, und ich wohne schließlich hier.“
Das musste sie sich noch öfter selbst sagen: ich wohne hier. Zu ungewohnt war dieser Gedanke zurzeit noch für sie. Als Teenager hatte sie einmal mit ihrer Familie Urlaub in Österreich gemacht. Damals war ihr es so langweilig gewesen, dass sie sich seither nie wieder für Berge und alles, was damit in irgendeiner Hinsicht zu tun hatte, interessierte. Als Hamburgerin kannte sie sich aus mit Wasser, Ebbe und Flut, sie konnte Krabben pulen und Plattdeutsch schnacken; schon als Kind hatte sie segeln gelernt, kannte Begriffe wie Luv und Lee und Steuerbord und Backbord aus dem Effeff und konnte mit ihrem Wissen über Seefahrt sogar in Hamburg manchen Leuten imponieren. Berge – das war eine andere Welt, so weit weg wie Australien oder die Chinesische Mauer. Sie hatte nie das Bedürfnis verspürt, diese Landschaft wiederzusehen. Doch jetzt hatte sie ihren Wohnsitz seit knapp zwei Monaten im Berchtesgadener Land. „Eine krasse Wende“, dachte sie. Doch zu ihrem eigenen Erstaunen gefiel es ihr in diesem Städtchen kurz vor der österreichischen Grenze wirklich gut; die hohen Berge faszinierten sie mehr, als sie jemals gedacht hätte. Wenn sie nur langsam einmal ein paar vernünftige Leute kennen lernen würde! Der Mangel an privaten Kontakten machte ihr zu schaffen.
Rosa, eine Kollegin, unterbrach ihre Gedanken und holte sie in die Gegenwart zurück. Die freundliche ältere Frau drückte ihr eine Tasse Kaffee in die Hand. „Ruhig heute, gell? Aber wer weiß, wie lange noch.“ Rosa konnte bei aller Anstrengung, in verständlichem Hochdeutsch zu sprechen, ihren urbayerischen Akzent nicht unterdrücken. Sie war ein netter, mütterlicher Typ. Sie bemerkte Stephanies Eingewöhnungsschwierigkeiten und versuchte ab und zu, ihr mit kleinen Gesten und Freundlichkeiten einfach etwas Gutes zu tun. Stephanie nahm es dankbar an; es tat ihr gut, dass jemand ihr das Gefühl gab, nicht ganz alleine auf dieser Welt zu stehen, und es machte ihr Hoffnung, dass auch die Zeit des sich–fremd–Fühlens ein Ende haben würde.
Eine Klingel summte. Stephanie stellte ihre Tasse ab und lief auf den langen Gang. Am anderen Ende des Flures leuchtete die Lampe über einer Tür. Stephanie betrat das Zimmer, in dem drei junge Frauen lagen. Zwei waren schon wieder recht munter auf den Beinen. Die quirlige Frau Krause aus Münster, die einen Skihang zu rasant genommen hatte und sich nun die Skiabfahrten nur noch im Fernsehen anschauen durfte, aber sämtliche Bewegungen so mitmachte, dass ihre Zimmernachbarinnen manchmal Angst hatten, sie würde gleich aus dem Bett fallen, und die eher schüchterne Asanja Mbabwe aus Ghana, die zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee live erleben wollte und die Erfahrung machen musste, dass dieser nicht nur schön, weiß und kalt, sondern manchmal auch glatt ist. „Das hat man mir am Goethe-Institut nicht beigebracht“, bemerkte sie trocken, als ihr Bein eingegipst wurde.
Gestern war Svenja Bergmann dazu gekommen. Die Studentin aus München wollte ein paar Tage lang dem Alltag entfliehen; nur kleinere Wanderungen unternehmen, die frische Bergluft genießen und einfach entspannen. Am dritten Tag wurde sie mit einer akuten Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Keine zwei Stunden später lag sie auf dem Operationstisch.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Stephanie, als sie an Svenjas Bett stand. Das junge Mädchen war noch etwas blass, aber ansonsten hatte sie den Eingriff gut überstanden. „Ich möchte zur Toilette gehen, aber alleine klappt das wohl noch nicht so ganz“, grinste sie. „Na, dann gehen wir gemeinsam.“ Stephanie half ihr behutsam aus dem Bett und stütze sie beim Gehen.
* * *
Langsam wurde es dämmerig, aber die Sicht war immer noch erstaunlich klar. Berchtesgaden lag hell erleuchtet ein wenig unterhalb der Klinik – ein wirklich traumhafter Anblick. Fast von einem Moment auf den anderen verschwand die Sonne hinter den Bergen, die sich jetzt nur noch als dunkle Silhouette vor dem mondhellen Himmel abzeichneten. Noch 2 Stunden, dann war ihr Dienst zu Ende. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad und einem gemütlichen Fernseh-Abend bei einem guten Glas Rotwein. Fehlte nur noch eine Person: Jana, ihre beste Freundin. Aber die war in Hamburg. Ihre Telefonleitung würde wieder glühen heute Abend.
„Endlich Urlaub!“ Michael Aschmann sprang aus dem Zug. Die letzten Wochen in der Firma waren mehr als stressig gewesen, Überstunden gehörten zur Tagesordnung, und nicht selten war er noch spät am Abend an irgendwelchen Computern beschäftigt gewesen, die wieder einmal alle gleichzeitig vergessen hatten, was ihre Aufgabe war. EDV-Betreuer in einer expandierenden Firma zu sein, brachte ihm zwar ein gutes Gehalt, aber manchmal auch mehr Stress, als ihm lieb war. Bis gestern Mittag war es nicht wirklich klar, ob er seinen schon lange gebuchten Urlaub auch antreten konnte. Dank seiner Doppel- und Dreifachschichten in den letzten Wochen konnte er aber alle Arbeit tatsächlich so weit abschließen, dass es möglich war, sich für zwei Wochen auszuklinken. Ihn lockte nicht die Sonne auf Mallorca oder die Karibik; für ihn begann der Urlaub dort, wo die Berge begannen.
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