Michael stand auf dem Balkon seiner Pension und versuchte, durch das Schneegestöber die nahen Berge auszumachen. Nicht einmal der Kehlstein war zu sehen, der sonst zum Greifen nahe schien. Bei Sonnenschein konnte er mühelos einen Teil des Kehlsteinhauses, dem ehemaligen „Eagles Nest“, auf dem Gipfel ausmachen. Jetzt war nicht einmal der Berg zu sehen. Seit drei Tagen ging das schon so. Sein mitgebrachtes gutes Wetter hatte sich verflüchtigt. Michael liebte den Schnee, aber er wollte ihn nicht nur vom Himmel fallen sehen; er wollte Ski laufen. Bei diesem Wetter unmöglich. Keine fünfzig Meter Sicht, da war die Abfahrt lebensgefährlich und sämtliche Pisten gesperrt. Freilich fanden sich trotzdem immer wieder ein paar Waghalsige am Berg, die alle Warnungen und Verbote in den Wind schlugen. Nicht selten endeten solche Abenteuer im Krankenhaus, und so manchen hatte es auch schon das Leben gekostet.
Michael hatte nicht vor, sein Leben zu riskieren, und im Krankenhaus wollte er auch nicht landen. So schmerzlich es auch war, auch heute blieben die Skier stehen. Es gab ja in dieser Gegend noch genügend andere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Gestern hatte er eine kleine Wanderung zum Königssee gemacht. Ein wunderschöner Weg durch den verschneiten Wald zum saubersten See Deutschlands, der trotz seiner teilweise 190 Meter Tiefe im Winter oft zufror. Auch jetzt überzog eine leichte Eisdecke das glasklare Wasser. Überall standen Schilder, die davor warnten, das Eis zu betreten. Leider war es nicht tragfähig. Der zugefrorene See bot einen faszinierenden Anblick. Eingebettet zwischen hohe Berge, lag er dort wie im Winterschlaf. Die lautlosen Elektroboote hatten ihren Betrieb schon lange eingestellt, aber dennoch tummelten sich Hunderte von Touristen am Seeufer. Die zahllosen Andenkenläden, Geschäfte und Restaurants hatten auch im Winter Hochsaison.
„Erst einmal frühstücken.“ Michael ging in den gemütlichen Frühstücksraum, nahm an einem der von Christine liebevoll gedeckten Tische Platz, goss sich eine Tasse Kaffee ein und wollte gerade sein Ei köpfen, als Florian Mooser hereinplatzte. „Hast du schon gehört? In der Raumsau ist eine Lawine abgegangen! Alle Straßen sind gesperrt, Hunderte Autos sind unter dem Schnee begraben! Die Bergwacht schafft es gar nicht, alle zu suchen! Keiner darf das Haus verlassen!“ Einen Moment stutzte Michael – in den Nachrichten vor einer halben Stunde hatte er davon nichts gehört. Dann wurden ihm die Übertreibungen dieser Aussage bewusst, und er sah den Jungen durchdringend an. Er kannte den Sohn der Pensionswirte, aber manchmal fiel er doch wieder auf dessen Streiche herein. Florian grinste breit: „Aber zuerst hast du’s geglaubt!“ Michael gab es zu. „Aber demnächst musst du dir was Neues einfallen lassen. So langsam kenne ich deine üblichen Fallen. Hast du keine Schule heute?“ „Nein, es ist doch eine Lawine abgegangen.“ Florian duckte sich, als Michael dazu ansetzte, mit dem Ei nach ihm zu werfen. „Heute ist Samstag. Ihr Urlauber habt ja eh gar kein Zeitgefühl!“
Stimmt, heute war Sonnabend. Wenn er noch etwas unternehmen wollte, bevor das Wochenende auch in den Orten begann, sollte er sich langsam auf den Weg machen. Das Wetter versprach keine Aussicht auf Besserung. So entschloss Michael sich, mit dem Bus nach Salzburg zu fahren. Die Mozartstadt war nicht weit entfernt, und er kannte sie schon von seinen früheren Besuchen. Hier gab es immer wieder etwas Neues zu entdecken. Salzburg im Winter war eine besondere Attraktion. Er beendete sein Frühstück, packte seinen Rucksack und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
* * *
Stephanie war noch krankgeschrieben, aber heute traute sie sich endlich einmal wieder nach draußen. Die klare Winterluft würde ihr gut tun. Sie wickelte sich einen dicken Schal um den Hals, schlüpfte in die gefütterten Stiefel, zog den Reißverschluss des Anoraks bis oben hin zu und setze sogar eine Wollmütze auf. Eigentlich hasste sie Mützen, aber die letzte Woche im Bett hatte ihr gereicht. Eine Verlängerung der Erkältung konnte sie gar nicht brauchen. Noch zwei Tage, dann sollte und wollte sie wieder arbeiten.
Dicke Schneeflocken flogen ihr ins Gesicht, setzten sich auf die Augenbrauen und krochen in ihre Nase, als sie die Straße betrat. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, wollte einfach nur frische Luft tanken, vielleicht ein paar notwendige Dinge einkaufen. Außerdem hatte sie Sehnsucht nach Menschen und Leben. Sie schlug den Weg zur Stadtmitte ein. Bei diesem Wetter waren nicht so viele Menschen auf der Straße. Die Einheimischen zogen es vor, es sich zu Hause gemütlich zu machen, doch viele Urlauber ließen sich nicht abschrecken und entdeckten das Bergstädtchen im Schneegestöber. An einer Bushaltestelle standen fast 10 Personen. Alles Touristen, vermutete Stephanie. Die wollten vermutlich aus dem vermasselten Skitag das Beste machen und ein bisschen Kultur im nahen Österreich schnuppern. Am liebsten würde sie mitfahren, Salzburg kannte sie noch nicht. Aber nach einer Woche im Bett mit noch leicht wackeligen Beinen war ihr das noch zu anstrengend. Und wenn sie zufällig jemand aus der Klinik sähe, würde das sicherlich auch nicht den besten Eindruck hinterlassen.
Krankgeschrieben heißt nicht, im Bett liegen zu müssen, das wusste sie nur zu gut, und ihre Kollegen natürlich auch. Gegen einen Spaziergang in Berchtesgaden war nichts einzuwenden, aber ein Ausflug nach Salzburg könnte leicht einen anderen Anschein erwecken. Ein Bus rollte langsam an die Haltestelle heran, schluckte die Menschenmenge und fuhr weiter. Stephanie spazierte weiter bis zum Marktplatz. Aus einem Café kamen verlockende Düfte, und sie stellte freudig erstaunt fest, dass sie diese schon wieder wahrnahm. Das war das Ende der Grippe! Sie öffnete die Tür und suchte sich einen Platz. Am späten Vormittag war noch nicht viel Betrieb hier, so dass sie die freie Auswahl hatte. Am Fenster hatte sie Gelegenheit, die Menschen zu beobachten, die vorbei gingen. Sie bestellte einen Cappuccino und ein belegtes Brötchen, entdeckte die ausliegenden Zeitungen und nutzte die Gelegenheit, einmal in der örtlichen Tageszeitung zu blättern und zwischendurch immer wieder einen Blick auf den Marktplatz zu werfen. Sie liebte es, die Menschen zu beobachten.
Touristen strömten auch im Winter in die Andenkenläden, ein alter Mann bewegte sich mühsam mit einem Stock über das glatte Pflaster, eine junge Frau schob einen Kinderwagen, ein etwa fünfjähriger Junge mit einem wuscheligen Hund an der Leine trabte hinter ihr her. Ab und zu blieb der Junge stehen und ließ sich von dem Hund über den Schnee ziehen. Stephanie musste lachen, als sie das Schauspiel beobachtete. Der Hund schien auch seinen Spaß daran zu haben und zog das Kind scheinbar mühelos über den Schnee. Die Mutter dagegen musste den Kinderwagen manchmal mit ziemlicher Anstrengung vorwärts bewegen. Ein bis zum Rand gefüllter Korb unter dem Wagen ließ auf einen größeren Einkauf schließen.
Eine Stunde später verließ Stephanie das Café, entschloss sich zu einem kleinen Einkauf und machte sich langsam wieder auf den Heimweg. Für den Anfang war dieser Ausflug genug.
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Der Anrufbeantworter zeigte an, dass jemand eine Nachricht hinterlassen hatte. Stephanie warf ihre Jacke achtlos auf einen Sessel, stellte den Einkaufsbeutel vor dem Küchentisch ab und drückte die Wiedergabetaste an dem Gerät. „Hallo Stephi, ich wollte mal hören, wie es dir im tiefen Süden geht.“ Der Anrufer hatte keinen Namen genannt, doch das war auch nicht nötig. Es verschlug Stephanie auch so die Sprache. „Melde dich doch mal. Vermisst du Hamburg nicht?“ „Doch“, dachte sie, „im Moment sogar sehr. Musst du ausgerechnet jetzt anrufen, wo ich dich fast vergessen hatte?“ Seit ihrem Umzug hatte sie von Carsten nichts mehr gehört. Woher hatte er überhaupt ihre Telefonnummer? Sie hatte sie ihm nicht gegeben. Schon vor 5 Monaten hatten sie sich getrennt, und Stephanie wollte ein ganz neues Leben beginnen. Da kam die Stellenannonce in der Zeitung gerade recht. Sie bewarb sich spontan, und kurz darauf fuhr sie nach einem Vorstellungsgespräch im Kreiskrankenhaus Berchtesgaden mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche zurück nach Hamburg. Bevor sie sich richtig besinnen konnte, wurde es Zeit, sich um Kündigung, Wohnung und Umzug zu kümmern, und zum Jahresbeginn hatte sie ihren ersten Dienst-Tag auf der chirurgischen Station im südöstlichsten Zipfel Bayerns angetreten.
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