Joachim quälte sich den Anstieg hinauf, die Ellbogen an die Rippen gepreßt, die Knie aneinandergeklebt. Seine Fersen schlenkerten seitlich aus, was Titus als weibisch empfand.
Später durften Titus und Martin die Mannschaften wählen. Titus begann. Nachdem jeder sieben Namen genannt hatte, wählte Titus Joachim. So blieb Peter Ullrich unter den letzten. Martin verschmähte Peter Ullrich ebenfalls, und Titus zeigte auf einen mit zusammengewachsenen Augenbrauen und riesigen Nasenlöchern. Peter Ullrich ging als letzter an Martin.
Joachim stellte sich freiwillig ins Tor.»Auf zur Revanche, Martin«, sagte Kampen und pfiff das Spiel an.
Es war ein schlechtes Spiel. Keiner wollte mehr rennen. Joachim hatte an einer Rückgabe vorbeigetreten, es hatte Eckstoß gegeben, und der war irgendwie ins Tor gegangen. Für die Größe des Feldes waren sie zu viele Spieler und die Tore zu klein. Kurz vor dem Abpfiff sprang der Ball in der Mitte des Spielfelds ein paar Augenblicke herrenlos herum, Titus erreichte ihn als erster und traf ihn so glücklich mit dem Spann, daß der Ball ins Netz flog. Niemand jubelte.»Ein Schuß wie ein Strich«, sagte Kampen und pfiff das Spiel ab.
Mit dem Klingeln betrat Titus das Klassenzimmer, die Mädchen fehlten. Petersen rief» Freundschaft!«An die Tafel schrieb er» Isaac Newton 1643–1727«, warf die Kreide auf den Lehrertisch, steckte die Hände in die Taschen seines Kittels, wippte auf die Zehenspitzen und erzählte nach, was im Lehrbuch über den Begründer der klassischen Mechanik stand. Titus kam es so vor, als bestünde sein gesamtes Wissen allein aus dem, was Petersen gerade erzählte, als wäre Newton der erste Mensch, über den er sich etwas merken würde. Er war von seinem Tor noch wie benommen. Wie oft hatte Titus von solch einem Schuß geträumt — ein Schuß wie ein Strich.
Als sich die Tür zum ersten Mal öffnete und ein paar Mädchen mit hochroten Gesichtern hereinkamen, reagierte Petersen nicht. Den zweiten Pulk starrte Petersen stumm und finster an, bis die Mädchen auf ihren Plätzen saßen. Beim dritten Mal rief er, daß er sich das nicht länger bieten lasse, jeden Montag dasselbe!
Martina Bachmann, die als letzte hereingeschlüpft kam, wollte gerade beginnen, sich zu entschuldigen. Petersen winkte sie ungeduldig nach vorn —»Kommen Sie, kommen Sie, kommen Sie!«— und überreichte ihr das Stück Kreide wie eine Blume.»Da, machen Sie weiter, machen Sie weiter!«Petersen setzte sich auf die freie Bank vorne links und ließ seinen Unterschenkel baumeln. Immer mehr Mädchen rechtfertigten sich. Martina Bachmann durfte sich setzen.
Als Titus wieder aufsah, schrieb Petersen F = m · g und dann G = m · g an die Tafel. Titus versuchte sich einzuprägen, daß Masse und Gewichtskraft eines Körpers unterschiedliche Größen sind und die Gewichtskraft nicht in einer Einheit der Masse gemessen werden darf.»Die Gewichtskraft eines Körpers«, sagte Joachim,»ist die Kraft, mit der er senkrecht nach unten auf eine Unterlage drückt oder an einer Aufhängung zieht, also Masse mal Fallbeschleunigung. Also, g ist gleich neun Komma einundachtzig Meter durch Sekunde hoch zwei und wird in Newton oder Kilopond gemessen. «Petersen nickte, vergewisserte sich, daß das Buch vor Joachim zugeschlagen war, und sagte, daß sie nun zum Trägheitsgesetz kämen. Er schrieb ein paar Gleichungen an die Tafel. Titus wunderte sich, wie ruhig er war, als wäre das eine Stunde wie jede andere, in der er schlimmstenfalls eine schlechte Note bekommen würde, bevor es wieder klingelte. Vielleicht hatte Petersen die ganze Sache bereits vergessen.
«Wirkt auf einen Körper keine Kraft, so behält er seine Geschwindigkeit bei«, schrieb Petersen an die Tafel und umrahmte es. Während Titus überlegte, was das für ihn bedeutete, zeichnete Petersen schon ein Schiff, Meereswellen und vier Pfeile, nach oben und unten, nach rechts und links. Das waren die wirkenden Kräfte, Gewichtskraft und Auftriebskraft, Schubkraft und Wasserwiderstand. Die Trägheit eines Körpers ist um so größer, je größer die Masse des Körpers ist. Jemand kicherte. Petersen rief Peter Ullrich zu, daß er gleich Gelegenheit bekomme, das neuerworbene Wissen anzuwenden.
Titus wußte nicht, ob ihm schlecht war, weil er Hunger hatte oder weil er vorhin sein Brot zu hastig gegessen hatte. Oder weil sein Orientierungssinn gestört worden war, oder weil er sich in einer Art Schwerelosigkeit befand, einer Leere, in der man sich allein auf die Wissenschaft und ihre Gesetze verlassen konnte, in der Meinungen nicht zählten. Seine Dreitausendmeterzeit gehörte zur objektiven Realität, auch sein Tor, Newton war real, die Gleichungen waren real.
«Jeder Körper«, sagte Petersen und warf die Kreide auf den Tisch,»beharrt so lange in geradliniger, gleichförmiger Bewegung, solange die resultierende Kraft aller einwirkenden Kräfte null ist. Kommen Sie vor, da liegt die Kreide.«
Peter Ullrich schrieb weiter, als hätte er Petersens Zeigefinger nicht gesehen, erhob sich dann aber plötzlich und ging mit seinem schwankenden Gang nach vorn.
«Nach dem Trägheitsgesetz«, hob Petersen die Stimme,»bewegt sich das Schiff geradlinig, gleichförmig. Warum befindet es sich nicht in Ruhe?«Damit verließ er Peter Ullrich und setzte sich wieder auf die freie Bank links vorn. Es war so still, daß Titus die anderen atmen hörte.
Er sah sich anstelle von Peter Ullrich dort stehen, sah, wie sein eigener Blick über die Klasse flog und an Petersen hängenblieb.
«Ich kann diesen Vortrag nicht halten. «Und sofort verbesserte er sich.»Ich möchte diesen Vortrag nicht halten.«
«Warum?«bellte ihn Petersen an.
«Weil ich den Dienst an der Waffe verweigere«, antwortete Titus.
«Was?«fragte Petersen.»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«
«Ich weiß es nicht«, sagte Titus,»ich weiß es wirklich nicht mehr, ich habe es vergessen.«
«Palaver, alles Palaver!«rief Petersen Peter Ullrich zu.»Sie haben nichts verstanden, nichts verstanden. Warum befindet sich das Schiff nicht in Ruhe?«Petersen wandte sich an die Klasse. Zuerst meldete sich Joachim, dann Martina Bachmann.
Titus sah den leeren Ausdruck in Peter Ullrichs Gesicht, als er an Martina Bachmann vorbei zu seinem Platz zurückkehrte.
Ich kann nicht mehr, ich kann es nicht, dachte Titus, es ist so sinnlos. Und was lag schon an so einem Gerede. Nie zuvor hatte er die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit solcher Meinungen und Behauptungen stärker gespürt als in diesem Moment. Ihm kam es vor, als wüßte er nicht mehr, wo oben und wo unten sei, und von vorn, vom Lehrertisch aus, würde er es noch viel weniger wissen.
Petersen lobte Martina Bachmann, ihren Sinn für die konkrete Vorstellung, für die Welt des Realen. Mit einem Lachen, das aussah wie Weinen, und merkwürdigen Schulterbewegungen ging sie zu ihrer Bank.
Petersen sah auf die Uhr.»Keine Angst, Titus, ich habe Sie nicht vergessen«, sagte er und sprach nun davon, daß sie aus einem allgemeinen Gesetz, dem Newtonschen Grundgesetz, ein spezielles Gesetz, nämlich das Trägheitsgesetz, abgeleitet hätten. Er nannte das deduktiv.»Es besteht jedoch ein grundlegender Unterschied zwischen mathematischen Sätzen und physikalischen Gesetzen.«
[Brief vom 9. 7. 90]
Spielte Petersen auf ihn an, auf den Gegensatz von Sätzen und Gesetzen? Mit jedem Wort, das Petersen aussprach, breitete sich die Leere in Titus weiter aus. Es grenzte an ein Wunder, daß die drei maschinengeschriebenen Seiten gerade in dem Augenblick griffbereit vor ihm lagen, da Titus seinen Namen hörte. Beim Aufstehen tastete er nach dem Hemd, ob es ihm nicht hinten aus der Hose hing.
Noch blieb ihm Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Als er dann vorne stand, spürte er plötzlich seine Knie. Sie zuckten, sie zitterten, etwas, was er nur als Redewendung kannte. Er kümmerte sich nicht weiter darum, denn man konnte nur seinen Oberkörper sehen. Titus staunte, wie vollkommen unvorbereitet ihn diese Prüfung traf. Niemand würde es ihm glauben. Die Quälereien waren sinnlos gewesen, vollkommen sinnlos. Jeder Augenblick löschte den vorherigen aus. Titus sortierte die drei Blätter, nicht einmal das hatte er geschafft — und legte sie gleich wieder vor sich hin, aus Angst, auch seine Hände könnten zu zittern beginnen.
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