Isabel Tahiri
Das neue Leben / Maxi I
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Inhaltsverzeichnis
Titel Isabel Tahiri Das neue Leben / Maxi I Dieses ebook wurde erstellt bei
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
Impressum neobooks
Seit Tagen steigen immer wieder Erinnerungen in mir auf, an meine Anfänge, an mein Leben. Ich sehe alles ganz deutlich vor mir. Vielleicht sollte ich es jemandem erzählen?
„ Auf jeden Fall, da kann manch einer noch etwas lernen.“
'Ach Scio, meinst Du, das ist so interessant?' Ich seufze.
„ Na ja, ich fand es bis jetzt immer spannend, Dich zu begleiten.“
'Ich liebe Dich auch!' Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus. Ohne Scio zu leben, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen.
„ Wir sind jetzt schon sehr lange verbunden. Ich habe mich auch an Dich gewöhnt, und außerdem, Mädchen, Du bist immer wieder für eine Überraschung gut.“ Er lacht.
'Also gut, versuchen wir es, schließlich stamme ich aus einem Volk von Geschichtenerzählern. Was meinst Du, womit soll ich beginnen?'
„ Am Anfang vielleicht...“
'Am Anfang, gut,...'
… die früheste Erinnerung, die ich habe, ist eher so ein Gefühl von Wärme, Geborgenheit und den Bewegungen meiner Geschwister. Eng aneinander gekuschelt liegen wir in einem Nest aus Gräsern, Papierresten, Fasern und verschiedenen weichen Materialien. Wir warten auf unsere Mutter, die oft vorbeikommt, um ihre Kinder zu säugen. Dabei erzählt sie immer Geschichten, die von Anorex, dem Futterfinder zum Beispiel, der unbändigen Hunger hatte, und deshalb das Essen schneller als jeder Andere fand. Oder von Tabitha, der Hohepriesterin der Göttin MUS, die eine neue Zuflucht entdeckte, nachdem die alte von einer Flutwelle zerstört wurde. Das ist die Aufgabe einer Mutter, zumindest bei uns Mäusen, ihre Kinder alles zu lehren, was man wissen muss. Mäusejunge sollten nach dem Öffnen der Augen notfalls in der Lage sein selbstständig zu überleben. Die Geschichten enthalten viele Ratschläge und den gesamten Wissensschatz von MUS. Von der Frage was wir gefahrlos essen können, über das Spuren hinterlassen, um zurückzufinden, bis hin zu Gebeten.
Eines Tages erzählte sie von der Namensgebungszeremonie, die bei uns enorm wichtig ist. Diese Tradition gibt es schon ewig, auch bei meiner Mutter war es so. An dem Tag, an dem wir erstmals Mal die Augen öffnen, kommt eine Priesterin der MUS zum Nest, um uns einen Namen zu geben. Angeblich ist sie in der Lage direkt in unsere Seele zu sehen, das hilft ihr Stärken und Schwächen zu erkennen und lässt sie die passenden Benennungen für das jeweilige Mäusekind finden. Ich bin so aufgeregt und kann es kaum erwarten. Die vielen Gerüche, die durch den Eingang unserer Erdhöhle, hereingeweht werden, machen mich überaus neugierig auf die Welt außerhalb des Nestes.
Gleich nach dem Aufwachen höre ich sie schon leise reden. Die Dienerin der MUS möchte wissen, ob es Mutter einwandfrei gehe, sie sich kräftig fühle und wir Kinder gedeihen. Josselyns Fell glänzt seidig, ihre Augen strahlen, sie bejaht alle Fragen. Sie bemerkt, dass wir wach sind, und kommt sofort herüber, wir werden gesäugt und gründlich geputzt.
Dann tritt die Priesterin an unser Lager und setzt sich.
„Meine lieben Kleinen, ich bin Tara und werde nun jedem der die Augen öffnet einen Namen geben, der zu ihm passt. Manche Namen tragen eine Bestimmung in sich, andere zeichnen eher den Charakter des Mäuschens auf. Ihr müsst keine Angst davor haben, Euer Name wird Euch beschützen und den Weg weisen, wenn Ihr mal nicht mehr weiter wisst. Ah, da öffnet ein kleiner Mäusejunge seine Lider, lass dich anschauen...“ Eine Weile schaut sie tief in die Augen meines ersten Bruders. „Er hat sehr ruhige und freundliche Augen,“ sagt sie, „Er wird seinen Geschwistern immer ein gutes Vorbild und ein Freund sein. Sein Name soll Beneficus sein, der Hilfreiche.“
Endlich gelingt es auch mir, zu blinzeln, und sie wendet sich in meine Richtung. Lange schaut sie mich an. „Hier haben wir wohl eine kleine Priesterin vor uns, es ist schwierig sich auf einen Namen zu einigen, Priesterinnen der MUS bekommen in ihrem Leben meist viele Namen, die sie sich alle verdienen müssen. Für den Anfang wird wohl Maxi der geeignete sein. Sie wird im Alter von einundzwanzig Tagen in die Klosterhöhle einziehen, davor aber soll sie sich austoben und ihre Kindheit genießen.“
Meiner Mutter steht vor Erstaunen der Mund offen, sie hat eine Erhobene geboren, noch dazu bei ihrem dreizehnten Wurf. Sie wird langsam alt, dieser Kindersegen könnte möglicherweise ihr Letzter gewesen sein.
Ich bin gar nicht so begeistert, Priesterin, was bedeutet das für mich? Nun, ich werde es sicher herausfinden. Aus den Geschichten weiß ich, das Priesterinnen nur geboren werden können, normale Mäuse sind in der Lage sich das Wissen aneignen, aber sie haben keine Gaben der MUS. Ich bin gespannt, was bei mir für eine Gabe auftaucht. Seelenblick, Heilkräfte unterschiedlichster Art, prophetische Träume, ... es gibt viele Talente. Üblicherweise offenbart sich die jeweilige Gabe zwischen dem sechzehnten und einundzwanzigsten Tag. Meistens wird, wie in meinem Fall, die junge Erhobene nach dem Abstillen in der Klosterhöhle zu einer vollwertigen Priesterin erzogen. Sie hat zwar all diese Gaben und würde auch herausfinden, wie sie diese beherrschen kann, aber es geht schneller, wenn es ihr jemand zeigt. Meine Brüder sind normal, aber Männchen werden auch wesentlich seltener mit einer Erhöhung geboren. Auf einhundert weibliche kommt nur ein männlicher Priester. Möglicherweise liegt es daran, dass wir eine feminine Göttin haben und sie Priesterinnen vorzieht. Na ja, egal, das wird in den Geschichten nicht erwähnt.
Manchmal macht jemand etwas Neues oder geht eine Sache anders an. Das wird dann so schnell wie möglich in eine Geschichte verpackt und bereits der nächsten Generation erzählt. Inzwischen öffnen meine Geschwister ebenfalls die Augen, auch sie bekommen von Tara ihre Namen Bella, Joana und Berti.
Dann dürfen wir aufstehen und die Umgebung erkunden.
„Entfernt Euch nicht zu weit vom Nest,“ ruft meine Mutter uns noch hinterher. Und schon sind wir aus der Wohnhöhle hinaus in den Gang gerannt. Bene erinnert sich an die Geschichte von den Spuren und weist uns an, Markierungen zu hinterlassen.
„Wisst Ihr noch, was Mutter gesagt hat? Ohne Spuren zu legen, kann es passieren, dass wir nicht mehr zurückfinden“. Wir machen uns sofort ans Werk und lassen alle paar Schritte etwas Kot oder einen Tropfen Urin zurück. Der Gang macht eine Biegung nach rechts und wir erstarren.
Was ist das?
Da sitzt eine riesige Gestalt mitten im Tunnel und schaut uns an. Wir springen fluchtartig übereinander. Bella, Berti und Joana flüchten zurück ins Nest.
*
Als nur drei ihrer fünf Kinder zurückkamen und etwas von einem Riesen erzählten, machte Josselyn sich Sorgen um die anderen zwei. Sie waren alle noch so jung, wie leicht kann da ein Unglück passieren. Sie befahl Berti, Bella und Joana im Nest zu bleiben und begab sich auf die Suche nach Maxi und Bene.
*
Bene und ich bleiben neugierig stehen.
Die Gestalt grinst breit. „Na, wen haben wir denn da? Wenn das mal nicht Josselyns neueste Brut ist.“
„Sie kennen uns?“ Vorsichtig frage ich, bereit, sofort loszurennen.
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