Sie legte das Klassenbuch auf den Lehrertisch und zwängte sich, ohne ihren Stuhl zurückzuschieben, auf ihren Platz.
«Jewgeni Jewtuschenko!«rief Dr. Bartmann.»Nicht gelesen? Sowjetische Schriftsteller über Literatur?«Aus seiner offenen Aktentasche zog er einen schmalen Zeitungsstreifen und hielt ihn hoch:»Der Kommunismus kann ohne Puschkin, ohne den einst Ermordeten, und ohne seinen vielleicht noch nicht geborenen Nachfolger nicht vollständig sein. Große Dichtung ist ein unabdingbarer Teil des Kommunismus. Andrej Platonow, und wem der nichts sagt, sollte ihn sich jetzt merken.«
Dr. Bartmann drückte den Streifen wie einen Beweis mit der flachen Hand aufs Klassenbuch und griff wieder nach der Zeitung.»… was die Türken (auch auf den Rängen) in eine schier bodenlose Schicksalsergebenheit stürzte. «Und dann:»Als DDR-Fußballanhänger befand man sich vor dem Bildschirm in der eigenartigen, unbehaglichen Lage, der türkischen Mannschaft die Daumen …«
«Zeig mal«, flüsterte Joachim wieder. Titus packte Staatsbürgerkundebuch, Hefter, Hausaufgabenheft und seine Federmappe auf den Tisch.
«… jener Mannschaft, die uns im November 1976 in Dresden einen Punkt geraubt hat, dem jetzt so mancher nachtrauert, als sei dieser Punkt die Ursache allen Fußballunheils, das uns in den darauffolgenden Monaten so permanent verfolgte und jetzt auch von Argentinien fernhält. Dabei schien am 29. Oktober 1977 alles gar nicht mehr so schlimm zu sein, nachdem unsere Mannschaft in Babelsberg das Kunststück fertiggebracht hatte, den Außenseiter Malta mit ebenjenem Resultat von 9: 0 zu besiegen, das die Österreicher vorgelegt und beinahe ins Reich der Unwiederholbarkeit verlagert hatten. Ich gestehe …«
Titus schob den Hefter mit den drei Seiten seines Vortrages hinüber.
«… und ziehe den Hut vor dieser auch nervlich hervorragend bestandenen Prüfung unserer Spieler. Aber die großen Ausnahmen sind eben Ausnahmen … Auf die Dauer rollt der Ball nicht in unwägbaren, glückhaften oder glücklosen Bahnen. Und so hat der Erfolglose die Pflicht, sich selbst zu befragen, was verpaßt oder nicht richtig getan wurde. Diese Frage wird die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen in den kommenden Tagen und Wochen gewiß beschäftigen. Hoffentlich so, daß die schon wieder vor der Tür stehenden neuen, großen, komplizierten …«
«Gleichgewicht des Schreckens«, zischelte Joachim durch den linken Mundwinkel.
«… übermorgen von der Rückrunde in den Europapokalspielen unserer Spitzenmannschaften noch nicht erwarten. Aber rüsten wir unsere …«
«… Das ist doch Blödsinn!«
«… rehabilitieren zu können! Wenig genug ist uns derzeit geblieben!«
Dr. Bartmann senkte die Zeitung. Am Mittwoch gegen Liverpool müßte Dynamo mindestens 4: 0 gewinnen, um das 5:1 vom Hinspiel wieder wettzumachen.»Ich wünschte«, sagte Bartmann und blätterte die Seite um,»so wie hier Jens Peter über den Fußball schreibt, würde über alle Probleme gesprochen. Zuerst, was er da über die Türken sagt …«Dr. Bartmann lachte auf,»schicksalsergeben und so, da ging mir schon der Hut hoch, da wurde mein Kuli unruhig. Aber dann nennt er doch noch Roß und Reiter!«
Titus sah, wie Joachim den Rand seiner Blätter mit Frageund Ausrufezeichen versah.
Dr. Bartmann schrieb oft ans ND oder an die» Sächsische Zeitung«. Vor den Herbstferien hatte er ihnen den Brief vorgelesen, in dem er fragte, warum die Redakteure des ND den USA-Präsidenten mit Kosenamen vorstellten. Wenn sie ihn schon beim Vornamen nennen müssen — dabei sei Carter oder Präsident Carter vollkommen ausreichend —, dann richtig, James Earl, aber nicht Jimmy. Denn aus welchem Grund sollten wir einen Mann, der die Interessen der aggressivsten Kreise des Imperialismus vertritt und die Menschheit mit der heimtückischsten Waffe, die es je gab, bedroht, warum sollten wir Carter, der die Neutronenbombe eine faire Bombe genannt hat, Jimmy nennen? Dr. Bartmann erklärte ihnen auch, warum sie Deutsche Demokratische Republik sagen sollten und nicht einfach nur DDR. In seinem Unterricht wollte er nur noch Deutsche Demokratische Republik und BRD hören.
Titus sah, wie Joachim» Unsinn «an den Rand des Vortrages schrieb.
Dann war es Zeit für die Chronik.
Titus zog seinen Hefter herüber und mit ihm Joachims Ellbogen. Aber Titus mußte jetzt schreiben, zehn Stichworte mußten am Ende im Hefter stehen.
«Enthüllung in New York — Israel hat mit Hilfe westlicher Länder vor mehr als zwanzig Jahren mit der Entwicklung von Kernwaffen begonnen. Dabei spielten israelische Agenten, die spaltbares Material aus USA-Atomanlagen besorgt hatten, eine entscheidende Rolle. Neben den USA sind auch die BRD und Frankreich an Lieferungen beteiligt.«
«Richtig«, sagte Dr. Bartmann,»aber zu lang.«
«Gewinnsucht verzichtet auf Moral: Mehr als 350 USA-Konzerne, etwa 500 britische Unternehmen und 400 Firmen aus der BRD haben sich in Südafrika etabliert. Ein Viertel der Investitionen Südafrikas stammen aus dem Ausland.«
«Sehr gut. Jetzt aber mal aktuell!«
«In der italienischen Öffentlichkeit nehmen die Protestaktionen gegen die USA-Pläne zur Produktion der Neutronenwaffe weiter zu. Mit einem Protestmarsch verurteilten am Dienstag in Rom Tausende Einwohner der Hauptstadt diese Absichten als einen aggressiven Schritt, der den Frieden der Mensch…«
«Undsoweiterundsofort«, rief Dr. Bartmann.
«Neue Mietpreiswelle in der BRD. Aufgrund gestiegener Baupreise von bis zu 20 Prozent muß …«
«Etwas anderes, etwas anderes!«
«Mehr Banküberfälle in der BRD!«
«Nein!«
«Dem Gedenken an Wassili Schukschin ist ein 8000-Tonnen-Frachter gewidmet …«
«Njet, njet, njet. «Dr. Bartmann akzeptierte die erneuten machtvollen Streiks in Italien, winkte aber ab bei den Folterungen in Belfast, der neuen Phase des Raketenbaus in der BRD, dem befristeten Waffenembargo gegen Südafrika und der Giftbombe für die USA-Marine.
Erst bei den Reaktionen auf den Panama-Kanal-Vertrag nickte Dr. Bartmann wieder und drehte sich dabei kurz um, als wollte er sehen, wie viele Plätze es noch bis zu Joachim waren, der das letzte Mal» Besucherrekord auf der Burg Stolpen «vorgeschlagen hatte, was Dr. Bartmann ihn hatte begründen lassen. Und Joachim hatte einen Kurzvortrag über das Geschichtsbewußtsein gehalten, das sich nicht immer nur auf die jüngste Vergangenheit beziehen dürfe, sondern die Erfahrungen aller Epochen benötige, und Dr. Bartmann hatte den Besucherrekord gelten lassen.
Es war dann nicht deutlich, auf wen Dr. Bartmann gezeigt hatte, jedenfalls sagte Joachim:»Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sind am Donnerstag, den 27. Oktober auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart beigesetzt worden.«
Dr. Bartmann lächelte.»Das Thema hatten wir doch schon letzte Woche. Ist es denn so wichtig?«Dr. Bartmann erinnerte an Lenin, daran, daß Linksradikalismus die Kinderkrankheit des Kommunismus sei und welchen Schaden sie der Sache des Proletariats zufüge.
Statt Titus aufzurufen, nickte Dr. Bartmann bereits Peter Ullrich zu, der in der Bank vor ihnen saß. Titus schossen Tränen in die Augen. Am liebsten hätte er losgeheult.
Peter Ullrich sprach von unterirdischen Kernexplosionen in Nevada und Panzerabwehrraketen für Großbritannien. Es war lächerlich, in Tränen auszubrechen, nur weil Bartmann ihn übergangen hatte. Wie sollte er denn je eine Entscheidung treffen, wenn er windelweich war wie ein Kleinkind?
Er fürchtete sich vor der Pause, vor den fünf Minuten bis zum Beginn der Russischstunde. Er hatte gesagt, was er sagen wollte. Wenn Joachim das nicht begriff, wenn er immer noch glaubte, er würde ihm statt seiner Mutter folgen …
«Erstens«, diktierte Dr. Bartmann,»ein elektronisches Rechenzentrum des Systems EC 1040 des Kombinates Robotron wurde in Havanna übergeben, KOSMOS 962 wurde gestartet. Zweitens hat die Abwerbung ägyptischer Wissenschaftler durch westeuropäische Staaten und die USA ein bedrohliches Ausmaß angenommen. 70 Prozent der Studierenden kehren nicht in ihre Heimat zurück.«
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