Obwohl ein Sonntag, der den Namen verdiente, die Anwesenheit seiner Mutter brauchte, so war er jetzt froh, sie erst wiederzusehen, wenn bereits alles entschieden sein würde. Denn in ihren Augen würde alle Anstrengung, alles Üben und Bangen umsonst gewesen sein, überflüssig die Freude über eine Eins, der Kummer angesichts einer Zwei und erst recht die Verzweiflung bei einer Drei. Ach, Mutter, wollte er sagen. Es ist kein Opfer, was ich bringe, im Gegenteil, es ist eine Befreiung, eine Auferstehung. Ich habe doch gar keine Wahl. Ich habe es tun müssen, weil sich sonst alles in Sinnlosigkeit auflösen würde. Wenn Wahrheit und Lüge, richtig und falsch, gut und böse ihre Bedeutung behalten sollen, muß ich nein sagen.
Ihm war, als könnte er zum ersten Mal wirklich frei atmen. Erlebte er nicht gerade im Augenblick jene Freiheit, von der all jene berichtet hatten, die bereit gewesen waren, sich zu Jesus zu bekennen und ihr Kreuz auf sich zu nehmen? Begann nicht erst jetzt das Leben? Wie hatte er es nur ausgehalten, solch ein Duckmäuser zu sein, wie unnötig waren doch all diese Verbiegungen!
Titus hörte den Schlüssel in der Wohnungstür. Er zündete die Kerzen an und legte die Platte mit den» Brandenburgischen Konzerten «auf den Plattenspieler.
«Du sollst deine Mutter anrufen«, sagte der Großvater, nachdem er sich gesetzt und das Maggi verrührt hatte.
«Hast du mit ihr gesprochen?«
«Du sollst sie anrufen«, sagte der Großvater.
Titus versuchte sich vorzustellen, wie sein Leben am nächsten Sonntag sein würde. Er konnte nicht sagen, was das Wohnzimmer dann von dem jetzigen unterscheiden würde, außer daß seine Mutter mit am Tisch sitzen würde. Aber es würde ein ganz anderes Zimmer sein.
Nach dem Essen fuhr Titus mit dem Rad zu den Waldteichen. Auf diesem Weg kannte er jede Asphaltnase, fast blind absolvierte er die Slalomfahrt um die Schlaglöcher und kleinen Buckel, die wie Warzen von den Ausbesserungsarbeiten zurückgeblieben waren. Der Gedanke an das Telephonat bedrückte ihn von Minute zu Minute mehr.
Seit er zur Schule ging, war es ihm nie in den Sinn gekommen, seiner Mutter von Schlägen, Beschimpfungen, überhaupt von Erniedrigungen zu erzählen. Denn alles, was ihm widerfuhr, schmerzte sie doppelt. Jetzt aber würde er ihr weh tun müssen. Er war seiner Mutter immer dankbar gewesen, daß sie ihn und die Schwester nicht so behandelt hatte, wie Kinder gemeinhin behandelt wurden. Nach dem Tod des Vaters hatte sie ihnen keinen neuen Mann zugemutet. Männer waren roh und wollten, daß man sich mit nacktem Oberkörper wusch wie bei der Armee.
Der Wind zerrte an ihm. Titus hatte Klotzsche und Hellerau durchquert und war am Ende der Dorfstraße nach rechts abgebogen, den ungeschützten Anstieg hinauf. Er ging aus dem Sattel, aber das brachte nichts. Besser war, sich flach über den Lenker zu beugen und zu treten, was das Zeug hielt.
Einmal hatte ihm seine Mutter Hausarrest gegeben, was für ihn vollkommen inakzeptabel gewesen war. Es war ihm peinlich gewesen, er hatte sich für sie geschämt. Ihr war es ähnlich gegangen. Erst hatte sie ihn einkaufen geschickt, dann waren sie gemeinsam in die Eisdiele gegangen, und danach hatte er sich im Taschenladen ein richtiges Männerportemonnaie aussuchen dürfen.
Er dachte daran, wie er im Kindergarten die angebrannte Milch hatte trinken müssen und ihm die Haut an der Lippe hängengeblieben war und wie er früher, als sie noch keinen Fernseher hatten, mit seiner Schwester Annie jeden Sonnabendnachmittag bei den Nachbarn geklingelt hatte, um» Professor Flimmrich «zu sehen. In dieser Zeit hätte er die Treppenhäuser und Wohnungen am Geruch unterscheiden können. Wegen des» Schneekönigin«-Films hatte Annie die Beckers, ein Rentnerehepaar, aus dem Mittagsschlaf geholt. Die Beckers hatten sie davongejagt, um sie jedoch ein paar Minuten später heraufzuwinken. Annie und ihm hatten die Beckers ihre silbrig glänzenden Sessel angeboten. Aus einer runden Holzdose durften sie gezuckertes Gelee essen. Von da an hatte er sich immer wieder gefragt, ob, selbst wenn alles in seinem Leben mißlingen sollte, ihm wenigstens dieses bliebe: vor dem Fernseher zu sitzen und gezuckertes Gelee zu essen. Diese Vorstellung hatte der Welt viel von ihrem Schrecken genommen.
Auf dem kleinen Hügel, von dem aus man kilometerweit über die Felder sah, hinter denen der Moritzburger Wald die Horizontlinie zog, begriff Titus plötzlich, daß die Kindheit hinter ihm lag.
Den Abhang hinab gewann er mehr und mehr an Fahrt. Das Kunststück bestand darin, sich, ohne zu bremsen, in jene Linkskurve zu legen, mit der die Straße zu den Waldteichen abzweigte. Wem es gelang, so einzuschwenken, daß der Asphalt am Straßenrand wie eine Steilkurve funktionierte, erlebte, wie sein Körper zwischen Druck und Widerstand herumgerissen und gelenkt wurde. Das Glück dieser Sekunde kribbelte lange nach. Wer den richtigen Winkel verfehlte, wurde aus der Kurve getragen und schoß ins Feld.
(Hier noch ein paar Träumereien über das neue Leben und schöne Beobachtungen einfügen. Und wie er versucht, nicht mehr an Bernadette zu denken.)
Titus erschrak vor dem kurzen Stochern des Schlüssels an der Wohnungstür, und dann erschrak er darüber, daß er erschrocken war …
Die Mutter, grau wie ein Radiergummi.
Sie hatte noch nie geweint, nicht vor ihm. Aber jetzt schimmerten ihre Augen feucht. Wie sie auf ihre Fußspitzen blickte, sah sie müde und dünn aus. Ihre auf den Knien gefalteten Hände rochen nach Chloramin.
«Mutter«, sagte er.»Du tust ja, als ob ich ein Verbrecher wäre.«
«Du rennst ihnen ins Messer, Titus«, sagte sie.»So aufrichtig! Doch das ändert nichts, gar nichts, du schadest dir nur.«
Er war froh, daß sie überhaupt wieder sprach.
«Irgendwann wirst du das verstehen«, sagte er, ohne den Kopf zu heben, und hätte am liebsten hinzugefügt:»und stolz auf mich sein«. Und dann sagte er es tatsächlich.
«Ich bin auch so stolz auf dich, Titus. Ich kann gar nicht stolzer sein als jetzt.«
Er hob immer noch nicht den Kopf.»Was ist denn so schlimm, wenn ich von der Schule fliege? Die meisten machen nur eine Lehre.«
Er hörte die Schritte des Großvaters.
«Du wirfst dich weg, Titus, Perlen vor die Säue!«
Titus empfing den Großvater mit einem Lächeln.»Wo ist deine Mutter?«
«Hier«, sagte Titus, und der Großvater drückte die Tür weiter auf.
«Ist was passiert?«
Titus schüttelte den Kopf und lächelte wieder. Seine Mutter rührte sich nicht und sah zu Boden, bis der Großvater wieder gegangen war.
«Was willst du denn sagen?«
Titus schwieg. Er hatte es einmal gesagt. Er konnte es nicht wiederholen, seine Worte blieben in den Spuren des Gesagten stecken. Aus der Küche hörte er das Radio, und ihm war, als hätte er diese Szene schon einmal erlebt.
«Denkst du, du besserst Petersen? Oder deine Mitschüler? Die bringst du nur in Verlegenheit, in Schwierigkeiten …«
«Soll ich denn lügen?«Jetzt sah er sie an.
«Wer sagt denn, daß du lügen sollst?«
Titus setzte sich gerade.
«Du sollst was über die Bundeswehr sagen, nichts weiter.«
[Brief vom 9. 6. 90]
«Das stimmt doch alles nicht.«
«Was stimmt nicht?«
«Aggressor und dieses Zeugs.«
«Woher weißt du das?«
«Die würden uns nie angreifen!«
«Wenn die Russen keine Armee hätten, keine Raketen … Glaubst du, der Westen würde sich nobel zurückhalten? Die haben nicht mal Allende geduldet. Denk an Vietnam! Nur weil die bessere Autos fahren und bessere Strumpfhosen haben, sind sie nicht automatisch menschlicher!«
«Wie redest du denn?«
«Alles würden die einkassieren!«
«Ich denk, der Westen …«
«Würde sich bedienen …«
Die Verzweiflung in ihrem Gesicht war wie weggewischt. Er kam sich vor wie beim Schach, wenn sie ihm erlaubte, einen dummen Zug rückgängig zu machen. Aber er wollte nichts mehr rückgängig machen.
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