Sanddorn, der Musiklehrer, schlug die Tür hinter sich zu, ging mit großen wiegenden Schritten zum Flügel, legte das Klassenbuch ab und rief:»Freundschaft! Setzen!«
Sanddorn ließ sich auf den Klavierhocker fallen, klappte den Flügel auf und spielte ein paar Takte, eine Variation von» Horch, was kommt von draußen rein«, das Lied, das sie vor einigen Wochen hatten vorsingen müssen.
«Wir brauchen Männer«, rief Sanddorn,»mehr Männer!«Und schon verlor sich die Melodie in den Baßtönen. Sanddorn schlug das Klassenbuch auf, blätterte einige Seiten um und stützte sich mit den Unterarmen darauf, so daß die Klasse nur seinen großen Kopf sah.
Titus mochte Sanddorn, obwohl dieser ihn beim Vorsingen nach der ersten Strophe auf den Platz geschickt und die von Titus’ Gesang entstellte Melodie zur Freude aller auf dem Flügel imitiert hatte. Aber eine schlechtere Note als zwei vergab Sanddorn beim Vorsingen nicht. Titus war froh, daß die Woche mit einer Schonfrist begann.
«Mario Gädtke. «Sanddorn hatte den Namen aus dem Klassenbuch vorgelesen. Er merkte sich nur die Namen derer, die im Schulchor sangen. Michael war aufgestanden.
«Eine Eins im Singen, und nicht im Chor?«Mario zählte auf, was er alles mache und warum er nicht auch noch im Chor singen könne. Titus wünschte, Sanddorn würde ihn so etwas fragen, während Mario von Chemiezirkel, Posaunenchor und Judo sprach. Wie gern wäre Titus im Chor gewesen. Sie sangen das Weihnachtsoratorium, das Brahms-Requiem, Verdi, Mozart. Und FDJ-Hemden trugen sie nur zur Schuljahreseröffnungsfeier. Als Peter Ullrich nach vorn mußte, um zum zweiten Mal vorzusingen, ahnte Titus, daß an diesem Tag auch die unverfänglichste Stunde gefährlich werden konnte. Aber ihn, ihn würde Sanddorn nicht nach vorn bitten. Er wäre der letzte, mit dem es Sanddorn noch einmal probieren würde. Und tatsächlich schlug Sanddorn das Klassenbuch wieder zu.
«Haydn-Variationen!«rief er und wiederholte, was Brahms über die Sinfonie gesagt hatte, nämlich daß eine Sinfonie zu schreiben eine Sache auf Leben und Tod sei und daß Haydn —»Wie viele Sinfonien hat Haydn geschrieben?«— darin ein Meister gewesen sei, Haydn und Mozart, Haydn und Esterházy, Brahms und Haydn.
Die Platte knackte. Die Musik begann. Titus lehnte sich zurück. Das Motiv war deutlich.
Während er auf die Musik hörte, beobachtete er Sanddorn, der zwischen Flügel und Fenster hin- und herschritt, den Blick auf den Boden gerichtet, mit der rechten Hand gab er die Einsätze.
Sanddorn war von einer Körperfülle, die Titus als provokant empfand, weil diese Sanddorn als untauglich für eine militärische Betätigung auswies. Andererseits verstand Sanddorn sein Gewicht mit solcher Anmut zu tragen, daß man in ihm einen guten Tänzer vermuten konnte. In den Pausen schien es, als lustwandele er im Flur vor dem Musikzimmer auf und ab — Sanddorn im Lehrerzimmer war unvorstellbar —, dabei summte er irgendeine Melodie, die, sobald er stehenblieb, von seinen Fingern auf Heizkörper, Fensterbretter oder Scheiben übertragen wurde. Freundlichst erwiderte er jeden Gruß, wobei er sich mit dem ganzen Oberkörper vor Schülern wie Lehrern gleichermaßen verbeugte.
Sanddorn, der am Fenster stehengeblieben war, hob den Finger, um sie auf das Eingangsmotiv hinzuweisen. Titus hätte Sanddorn gern gefragt, ob er bei der Armee gewesen war und was er ihm rate.
[Brief vom 21. 6. 90]
Titus ging nach vorn. Er wollte nicht singen, er konnte nicht singen, Sanddorn mußte doch spüren, wie unmöglich es war, ihn ein zweites Mal dieser Tortur auszusetzen. Jede Zensur wollte er akzeptieren.
Sanddorn ließ den Flügel bereits in einem rätselhaften Vorspiel erdröhnen, um gleich darauf ganz sparsam mit den Zeilen:»Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen, bitte sehr!«zu beginnen.
«Nur mitsingen«, rief Sanddorn,»einfach mitmachen!«Sanddorn begann von vorn, nickte ihm aufmunternd zu, und Titus fiel ein. Er hörte nicht einmal das Lachen der Klasse, so laut sang Sanddorn.
Doch als das» Drum links, zwei, drei, drum links, zwei, drei «kam, glaubte Titus, er würde zusammen mit Sanddorn marschieren, er und Sanddorn sangen:»Wo dein Platz, Genosse, ist! Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!«
Die zweite Strophe begann, und sie marschierten gemeinsam weiter. Titus hörte sich jetzt, er lehnte sich an Sanddorns Stimme an — oder diese umschloß seine eigene Stimme. Den Text kannte er ja, den hatte er gelernt. Und plötzlich freute sich Titus, als wieder» Drum links, zwei, drei «kam. Er sang laut — und als Sanddorn und der Flügel schwiegen, sang er allein. Aber einen Augenblick später setzte Sanddorn wieder ein, und so marschierten sie gemeinsam durch die dritte Strophe.
«Mittwoch, 13.30 Uhr, Chor!«rief Sanddorn, als Titus zurück auf seinen Platz ging. Das Gelächter brach los, schlimmer als je zuvor. Titus versteinerte. Sanddorn spielte mit seinen heiligsten Gefühlen. Jetzt haßte Titus Sanddorn, dieses dicke Reptil hinterm Flügel. Erst als Sanddorn rief» Aus dem machen wir noch einen richtigen Tenor!«, begann Titus zu begreifen, was soeben geschehen war. Sanddorn schrieb eine Eins ins Klassenbuch.
Titus mußte sich beeilen, es hatte schon während der zweiten Strophe zur Pause geklingelt. Dennoch ließ er sich heute Zeit, weil er Joachim vor sich wußte. Der aber wartete an der Treppe mit dem Wandbild und der elften Feuerbachthese.
«Meine Mutter will, daß ich es vorlese«, sagte Titus hastig.
«Was denn?«Joachim lächelte.
«Über die Bundeswehr, hat sie geschrieben.«
«Deine Mutter? Deine Mutter hat es geschrieben?!«
Titus zuckte mit den Schultern.
«Deine Mutter ist doch eine kluge Frau«, sagte Joachim, zog die Lippen ein und öffnete sie mit einem leisen Knall.»Warum hilft sie dir nicht? Warum macht sie es dir noch schwerer?«Titus grüßte Frau Berlin, die von Joachim zu ihm und dann wieder zu Joachim sah und so ernst blieb, als habe sie mitgehört.
«Warum macht sie das?«
«Meinetwegen«, sagte Titus trotzig und schob sich mit zwei schnellen Schritten vor Joachim, um den Entgegenkommenden auszuweichen. Bernadette sah er nirgends. Erst auf der breiten Mitteltreppe erschien Joachim wieder neben ihm.
«Du hast es nicht einfach.«
«Sie hat eben Angst«, sagte Titus, ohne den Kopf zu wenden. Er hatte immer geglaubt, Gott sei sanft und gutmütig, aber jetzt spürte er, daß Gott auch hart und fordernd sein konnte.
«Dir werden andere helfen«, sagte Joachim.»Alle, denen ich von deiner Entscheidung erzählt habe, bewundern dich.«
Titus nickte Dr. Bartmann zu, der gegenüber der Zimmertür am Fensterbrett lehnte und im selben Moment, da sie den dunklen Mitteltrakt verließen, von seiner Zeitung aufsah, als hätte er sie erwartet. Dr. Bartmann lächelte immer. Nur wenn er von der Zukunft des Sozialismus sprach, wurde er ernst. Dr. Bartmann trug ausnahmslos helle Sachen, sogar die Streifen seines Hemdes waren irgendwie farblos.
«Na, Sportsfreunde«, rief er. Dann klingelte es, und Dr. Bartmann faltete die Zeitung zusammen.
Dr. Bartmanns» Freundschaft «hatte etwas Beiläufiges. Er begnügte sich damit, sie nachzuäffen, wenn sie gar zu lasch antworteten, wobei er die Schultern hängen ließ und in die Knie ging, als fiele er in sich zusammen.
«Gibt’s was Neues in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus?«Dr. Bartmann zog seine Hose hoch, bis die Gürtelschnalle jenen Punkt markierte, an dem sein Bauch am weitesten vorstand.»Neun zu null gewonnen, einen Tag lang gehofft, und trotzdem raus! Und was sagt unser Bezirksorgan?«In dem Moment öffnete sich die Tür, und Martina Bachmann erschien mit dem Klassenbuch.
«Ich liebe die Disziplin«, rief Dr. Bartmann,»obwohl ich dafür berühmt bin, sie nicht zu lieben. Na, Bachmännin, wer sagt das?«
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