«Das kannst du doch gar nicht beurteilen«, sagte Titus.
«Stell dir einfach vor, du sprichst über Glühbirnen oder Autos oder so was in der Art.«
«Wieso denn?«
«Darüber weißt du auch nicht viel mehr, oder?«
«Er will Schlußfolgerungen …«
«Die muß jeder selbst ziehen.«
«Mama …«
Wo waren seine Gedanken hin, die Argumente, die er ihr hatte vorhalten wollen. Wieso konnte er sie nicht überzeugen? War er so leicht matt zu setzen? Joachim hatte recht, Gunda Lapin hatte recht, seine Mutter hatte recht, alle hatten immer irgendwie recht, nur er selbst nicht.
(Oder besser als Situation in der Telephonzelle.)
«Er hat gefragt, wie ich mich eingewöhnt habe, wie ich mit den Anforderungen und der neuen Klasse zurechtkomme, und dann gesagt, daß es kein Werbungsgespräch sei, so wie man Söldner wirbt, das sei nun Gott sei Dank vorbei. So was gebe es bei uns nicht. Aber die Arbeiter- und Bauernmacht, die uns ermöglicht, diese Bildung zu erwerben, darf wohl von denen, die sie besonders fördert, auch eine besondere Gegenleistung verlangen.«
«Er war ganz ruhig, aber scharf, ruhig und scharf. Er hat gefragt, warum ich nicht für den Frieden bin. Ich hab ihm gesagt, daß ich natürlich für den Frieden bin. Ob ich denn auch bereit sei, mit der Waffe in der Hand meine Heimat zu verteidigen, oder ob ich tatenlos zusehen würde, wie man meine Familie ermordet.«
«Dann werde ich Müllkutscher. Ich werde schon nicht verhungern!«
«›Bei uns wird niemand allein gelassen mit seinen Entscheidungen‹, hat er gesagt.«
«Einen Kurzvortrag, bis Montag.«
«Ich weiß es doch nicht. Er hat mir ein Buch mitgegeben …«
Dann sagte Titus lange nichts. Es war schon fast dunkel geworden.
«Das wird immer so weitergehen«, sagte er schließlich.»Immer weiter und weiter.«
«Ja«, sagte er dann,»ja«.
5
Halb sechs. Titus sah die Tropfen an der Scheibe. Er drehte sich auf den Rücken und lauschte. Etwas hatte ihn geweckt, so wie früher, wenn der Kater aufs Bett gesprungen war. Alles klang nah: Die Autoreifen auf dem Asphalt, die Straßenbahn, die Busse, die hinauf zur Flugzeugwerft fuhren, die Züge in der Heide.
Titus preßte die Augenlider zusammen. Sein Herz arbeitete sich voran, immer höher, immer dichter unter die Haut.
Halb sieben, halb acht … er zählte es an den Fingern ab, halb eins … in sieben Stunden war es soweit — in acht Stunden würde sein Leben bereits ein anderes sein.
Er drehte sich auf die Seite, bog das Kissen um und drückte sein Gesicht hinein, als weinte er. Die Haustür fiel ins Schloß, Schritte auf den Gehwegplatten. Die nächsten sieben Minuten wollte er genießen, als wäre es mitten in der Nacht, und die restliche Zeit immer weiter halbieren, so daß er stets noch eine Hälfte vor sich hatte. Er winkelte die Beine an und zog die Decke hoch.
Sekunden bevor er klingelte, griff Titus nach dem Wecker und stand auf. Er schloß das Fenster, ging auf die Knie und machte Liegestütze. Er schrie sich selbst jede Zahl ins Ohr. Wie ein Offizier stand er neben sich, jede Zahl ein Rutenstreich. Bei vierzig hielt er zum ersten Mal inne, er hatte keine Luft mehr, war aber gezwungen, bis zur Erschöpfung weiterzumachen. Er sah sein verzerrtes Gesicht und hörte, wie er japste. Bei siebenundvierzig spürte er die Reitgerte auf seinem Rücken nicht mehr, achtundvierzig, neunundvierzig … selbst als sein Bauch den Boden berührte, hielten die Arme noch die Schultern oben, dann lag er da und erwartete sein Urteil.
Titus war wach, wunderbar wach. Wie ein Sprinter vom Startblock sprang er auf die Beine. Er setzte Wasser auf, nahm die Butter aus dem Kühlschrank und wusch sich über der Wanne. Sieben Stunden. Er hatte nichts weiter zu tun, als bei seiner Meinung zu bleiben. Das Schlimmste, der gestrige Nachmittag mit seiner Mutter, lag bereits hinter ihm. Vielleicht würde Petersen mit ihm zum Direktor gehen. Titus lächelte, während er sich abtrocknete.
Fünf vor halb sieben verließ er die Wohnung mitsamt dem Turnbeutel, rannte, da er die Bahn kommen hörte, und sprang während des Abklingelns in den letzten Wagen.
Der Mann neben ihm roch nach Zigaretten, Rasierwasser, Alkohol und Pfefferminz. Titus drang zur Wagenmitte vor und fand an der Haltestange einen freien Platz für seine Hand. Tasche und Turnbeutel hielt er zwischen den Beinen.
Hatten die Menschen um ihn herum nicht längst eingewilligt, ihre Lebenszeit mit dem kleinstmöglichen Aufwand herumzubringen, als gelte es, die Kräfte für das Jenseits zu schonen? War denn an keinen dieser Menschen je der Ruf Gottes ergangen?
Am Platz der Einheit mußte er aus der 7 aussteigen und hinüber zur Haltestelle der 6 laufen. An der Fußgängerampel stand ihm seine Mutter genau gegenüber. Er bemerkte sie nicht und erschrak dann, als er seinen Namen so dicht neben sich ausgesprochen hörte.
«Guten Morgen, Titus«, sagte sie. Sie umarmten sich.
«Du mußt es nur vorlesen«, sagte sie und hielt ihm Buch und Zettel hin.»Zehn Minuten, wenn du langsam liest.«
Er sah auf die Zettel. Das Buch lag in einer Plastetüte, auf der Münzen abgebildet waren.
«Das ist nicht deine Entscheidung, Titus«, sagte sie.»Ich möchte das so, und du hast dich danach zu richten.«
Titus sah zur Seite. Ihm war, als erteilte sie ihm Hausarrest.
«Du bist fünfzehn. Wenn du achtzehn bist, nach dem Abitur, dann kannst du verweigern, soviel du willst!«
«Nicht so laut«, flüsterte Titus. Wie kam sie dazu, ihn hier zu überfallen?
«Versprich mir das!«Titus sah hinüber zum Mahnmal für die Rote Armee; der Soldat mit Fahne holte zum Wurf mit der Handgranate aus. Er zielte genau auf seine Mutter und ihn.
«Du mußt es mir versprechen!«
«Ich will es versuchen«, sagte Titus.
«Nicht versuchen!«rief sie streng.»Das hat nichts mit ›versuchen‹ zu tun. Du machst, was ich dir sage, hast du verstanden, Titus?«
«Mama«, sagte er und lächelte. Er verstand nicht, was in ihm vorging. Es war wie ein Taumel, etwas löste sich in ihm, etwas Angenehmes. Sie verbot es ihm. So einfach war das. Plötzlich rückte alles wieder an seinen Platz. Er versuchte sein Lächeln zu unterdrücken; leidvoll wollte er seine Mutter ansehen. So widerstandslos durfte er sich nicht geschlagen geben. Er mußte ihr widersprechen.
«Ich habe mich entschieden«, sagte Titus.»Ich geh nicht zur Armee.«
«Dagegen habe ich nichts«, sagte sie.»Aber sag es nicht jetzt, sondern wenn es soweit ist, vor der Einberufung.«
«Petersen fragt jetzt danach. Ich will nicht mehr lügen!«
«Es ist nicht deine Entscheidung, Titus! Ich will, daß du den Vortrag hältst. Und deshalb hältst du ihn auch. Und wenn er dich fragt, dann sagst du, was du bisher gesagt hast, achtzehn Monate und keinen Tag länger.«
«Ich lese keine Lügen vor!«
«Wieso denn Lügen? Ich hab den Firlefanz weggestrichen. Du erzählst was von den Nazi-Generälen, die sie da alle hatten und haben, von den Kasernennamen, den alten Liedern, die sie immer noch grölen, den Revanchistentreffen, vor allem aber vom Geld. Die ganzen Firmen, die davon profitieren. Und wer an Waffen verdienen will, braucht Angst und Krieg. Mußt kein schlechtes Gewissen haben, mußt du sowieso nicht, aber das hier …«Sie drehte sich um, weil eine Straßenbahn kam.
«Die Elf«, sagte er.
«Wirst ja sehen«, sagte sie.
Sogar im Freien roch Titus das Chloramin an ihren Händen.
«War die Nacht ruhig?«fragte er.
«Ging so«, sagte sie.»Du hast es mir versprochen. «Sie hob sein Kinn hoch, er drehte den Kopf weg. Als er sie ansah, konnte er ein Lächeln nicht länger unterdrücken.
«Du versprichst mir jetzt, daß du es vorliest?«
«Ja«, sagte Titus.
An der Haltestelle, sie mußten in entgegengesetzte Richtungen, standen sie einander wie Fremde gegenüber, bis sich zwei Bahnen fast zeitgleich zwischen sie schoben.
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