Im Land der (beinahe) unbegrenzten Möglichkeiten
Vor Kurzem sprach mich eine jüngere Frau bei einem Empfang spontan an: „Kennen Sie mich noch? Dank Ihnen habe ich heute drei Kinder und bin dankbar für jedes einzelne.“
In der Tat war sie mir in guter Erinnerung geblieben, war sie doch die erste Frau, die bei mir mithilfe einer Beratung herausfinden wollte, ob sie sich dem Wagnis der Mutterschaft überhaupt stellen sollte. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie sich ihr Leben bequem eingerichtet: doppeltes Einkommen, herausfordernder Beruf, spannende Reisen weltweit. Sollte sie all das aufgeben für den täglichen Kleinkram mit Kindern? Der Verzicht auf diese Annehmlichkeiten erschien ihr damals nicht wirklich attraktiv.
Eine andere Mutter von zwei Kindern erzählte mir, dass sie die Kurve zum Kinderkriegen mit 35 Jahren gerade noch gekriegt habe. Sie hatte ebenfalls lange Zeit kein Verlangen nach Nachwuchs verspürt, denn ihr Beruf schenkte ihr genügend Befriedigung. Heute kann sie sich ein Leben ohne Kinder nicht mehr vorstellen.
Heutzutage nehmen wir es als selbstverständlich hin, dass Frauen frei über ihren Kinderwunsch bestimmen können. Doch erst seit rund 100 Jahren bewegen sich Frauen vermehrt in der Welt außerhalb ihres Heims. Noch für unsere Urgroßmütter waren die Lebensaufgaben klar vorgezeichnet und möglicherweise sogar einfacher als jetzt: Heirat, Arbeit in Haus und Hof, Kinder aufziehen, Enkelkinder hüten. In der „guten alten Zeit“ empfahl eine Familienzeitschrift im Jahre 1884 ihren Leserinnen: „Sei ganz Weib! Die Sorge für deine Kinder, die kleinen Dinge der Haushaltung, die süße Unruhe der Mutterschaft sind deine Arbeiten.“ In derselben Zeitschrift konnte man 1952 jedoch ganz andere Dinge lesen: „Der Typ der modernen Frau ist rasch im Denken, geistig beweglich und anpassend im Fühlen und steht an physischer und intellektueller Elastizität weit über den Frauen früherer Zeiten.“
Was ist nur in den letzten 150 Jahren passiert? Das Leben unserer Vorfahrinnen wurde schrittweise umgekrempelt. Und vier dieser grundlegenden gesellschaftlichen Änderungen prägen auch heute noch entscheidend unser Leben.
Wirtschaftliche Unabhängigkeit
Durch die Industrialisierung entstand auch für Frauen die Möglichkeit wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Plötzlich konnte man den Lebensunterhalt außerhalb des engen Familienverbandes verdienen. Dies eröffnete neue Horizonte: Unabhängigkeit, Freiheit, Ausbrechen aus überlieferten Lebensformen. Nun war es auch alleinstehenden Frauen möglich, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Die Mutter von heute lebt nicht mehr ausschließlich und in jeder Lebensphase aus dem Geldbeutel ihres Mannes, sondern steuert ihren Beitrag zum Einkommen bei. Dies stärkt den Selbstwert und die Selbstbestimmung.
Zugang zur Bildung
„Wissen ist Macht“, dies müssen heutzutage manche Menschen bitter erleben. Welche Chancen hat man schon ohne gute Ausbildung? Für Frauen sind die Möglichkeiten dazu noch nicht so alt. Erst vor rund 150 Jahren erstritten sich Frauen den Zutritt zu den Universitäten – damals zum Entsetzen vieler. Die ersten Studentinnen wurden angefeindet, als unweiblich und machthungrig verunglimpft und als Gefahr für die seit Jahrhunderten herrschende Gesellschaftsordnung abgestempelt. Durch ihren unerschrockenen Einsatz ebneten sie den Weg für all die modernen jungen Frauen, für die heute eine gute Ausbildung eine Selbstverständlichkeit ist.
Unterstützung durch den Sozialstaat
Die staatliche Einführung von Sozialversicherungen brachte Müttern mehr Freiheiten. Dank der Sozialhilfe/Hartz IV müssen Mütter nicht mehr bei unerträglichen oder gewaltbereiten Ehemännern ausharren. Nach einer Scheidung landen sie nicht mehr in Schande im Armenhaus oder wieder in der Abhängigkeit des Elternhauses, sondern können sich, falls notwendig, mit staatlichen Beiträgen über Wasser halten. Und letztlich ermöglicht die Altersvorsorge alleinstehenden Frauen, ihren Lebensabend in Würde und Unabhängigkeit zu verbringen.
Familienplanung
Schließlich führte die Empfängnisverhütung mit der Erfindung der Pille in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts zum sogenannten Pillenknick. Früher war man zur Mutterschaft berufen oder gar verurteilt. Zahlreiche Schwangerschaften zehrten an den Kräften der Mütter und führten allzu oft bei mageren finanziellen Verhältnissen zur Vernachlässigung von Kindern. Die Frauen hatten keine Wahl und waren den natürlichen Gegebenheiten der Fruchtbarkeit hilflos ausgeliefert.
Meine Mutter hat dies noch eindrücklich erlebt. Pünktlich neun Monate nach der Hochzeit wiegte sie ihren ersten Sohn im Arm und dann folgten im Jahrestakt zwei Töchter. Als ich ein Jahr darauf als Nummer vier zur Welt kam, wurde meiner Mutter klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Deshalb ging sie zum Pfarrer und nicht etwa zum Arzt und bat um einen seelsorgerlichen Rat. Tatsächlich hielt sich der Kindersegen dann in Grenzen: Kind Nummer fünf meldete sich erst zwei Jahre später und im Abstand von drei und nachher vier Jahren war unser Siebnerteam perfekt. Viel später fanden wir beim Spielen im Nachttisch meines Vaters so eigenartige längliche Dinger, die sich sogar aufblasen ließen … Anscheinend wusste der Herr Pfarrer über die Möglichkeiten der Verhütung Bescheid.
Heute leben wir im Land der beinahe unbegrenzten Möglichkeiten. Frauen können zwischen einem traditionellen Leben mit Mann und Kind oder einer eigenständigen Entwicklung wählen, in die je nach Lust und Laune auch Mann und Kind reinpassen können. Die Einheitlichkeit der jahrhundertelang vorgegebenen Frauenbiografie ist aufgebrochen, neue Lebensformen locken. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten birgt aber gleichzeitig auch Herausforderungen bei der Entscheidung darüber, welchen Weg man wählen will.
Mütter im Clinch
„Mütter von heute finden sich stark gestiegenen Ansprüchen gegenüber. An sich als Mutter und an ihre Kinder und damit an die Kindererziehung“, schreibt Ulrike Heidenreich in der Süddeutschen Zeitung 3über eine groß angelegte Studie mit dem Titel Modern Moms. Das Forscherteam bemerkte erstaunt, dass eine „eigenartige Mischung aus altem Mythos und neuen Idealen“ das Bild der Mutterschaft präge.
Viele Frauen wollen zwei Welten miteinander vereinen: die Erfüllung als hingebungsvolle Mutter und als erfolgreiche Karrierefrau.
„Ich will beides, Beruf und Kind, denn ich möchte nicht ganz von meinem zukünftigen Mann abhängig sein. Neben dem Kind brauche ich noch eine andere Aufgabe, die mir Freude macht“, drückte einmal eine Studentin mir gegenüber ihr Lebensziel aus.
Eine junge Ärztin erzählte mir von ihrem Dilemma: „Ich liebe meinen Beruf sehr. Lange konnte ich meinen Teilzeitjob in einem Krankenhaus und meine Kinder gut unter einen Hut bringen. Anfangs arbeiteten mein Mann und ich abwechselnd oder wir wurden durch meine Eltern entlastet. Dann kamen die Probleme mit unserer Tochter: Ihre Sprachentwicklung war verzögert, im Kindergarten konnte sie sich nicht einordnen und in der Schule hatte sie dann Konzentrationsschwierigkeiten. Plötzlich schmolz meine Sicherheit dahin. Die verhaltene Kritik meiner Schwiegereltern brannte wie Nadelstiche: ‚Vielleicht hast du zu wenig Zeit für deine Kinder‘, sagten sie. Ich liebe meine Kinder, aber ich liebe auch meinen Beruf.“
Später fragte ich ihren Ehemann nach seinen Schuldgefühlen. Seine knappe Antwort lautete nur: „Schuldgefühle? Das ist doch ‚Weiberkram‘!“
Auch Vollzeitmütter schwelgen nicht nur im Mutterglück. Eine Hausfrau und Mutter von vier Kindern berichtete mir: „Meine jüngste Tochter ist sehr ängstlich und tat sich schwer, als sie in die Schule kam. Jeden Morgen weinte sie so lange, bis ich sie schließlich begleitete. Und schon wurde ich von der Lehrerin der Überbehütung verdächtigt. Da entstünden zu starke Bindungen, wenn man immer zu Hause sei, meinte sie.“
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