Nach einer Weile erhob sich Lisbeth und begann, erneut von Stube zu Stube zu laufen. Ihre Betriebsamkeit machte ihn halbwegs munter, als bestünde zwischen ihnen eine Art Verbindung. Er drehte den Becher auf die Kanne und fokussierte den Feldstecher neu. Da löschte sie das Licht der Abzugshaube, und das Küchenfenster war so dunkel wie der Rest des Hauses. Willy schwenkte hinüber zur linken Giebelseite, wo sich ein flacher, unverputzter Anbau befand. Ein Hühnerstall mit Außengehege. Gelangweilt folgte er den braun gefiederten Hennen, die draußen herumstolzierten und ihre Schnäbel in den Schnee hackten. Fressen, kacken, weiter fressen. Vielleicht kommt mal ein Marder oder Fuchs vorbeispaziert und sorgt für Abwechslung, dachte er und stellte sich gleichzeitig Lisbeths Gesicht vor – ihre Augen, die der Schreck aus den Höhlen treten lässt, ihre Hände, die sich in ihre Wangen krallen, ihr Mund, der sich zu einem lautlosen Schrei öffnet, genau wie bei diesen bleichen Frauen in den alten Stummfilmen. Willy genoss seine Fantasie so lange, bis der Fokus seines Feldstechers den Giebel hinaufkletterte.
Direkt unterm Dach mit Blick auf den Hühnerstall lag das Zimmer ihres Sohnes. Seit Martin Berger weggesperrt worden war, hatte Willy dort nicht ein einziges Mal das Licht brennen sehen. Lisbeth schien die Stube niemals zu betreten, was er früher als Ausdruck tiefer Scham interpretiert hatte. Mein Sohn, der Mörder. Mein Sohn, die Schande der Familie. Mittlerweile war er überzeugt, dass Martin alles so vorfinden sollte, wie er es am Tag seiner Verhaftung zurückgelassen hatte. Echte Mutterliebe eben.
Willys Astra, der über keine Standheizung verfügte, war längst ausgekühlt. Er legte das Fernglas auf den Schoß, neigte sich zur Rückbank und griff nach seiner Fleecejacke, wobei ihn ein Stechen im Bauch erschaudern ließ.
»Danny, du blöde Sau.«
Unter Schmerzen fischte er aus der Innentasche ein loses Hustenbonbon, schob es sich in den Mund und streifte anschließend die Jacke über die Weste. »Ich hätte ihn einbuchten sollen«, sagte er. »Das wäre ihm eine Lehre gewesen.« Eva reagierte mit keiner Silbe, und Willy besah sich seine schrundigen Finger, als sei er pikiert über ihr Schweigen.
Eine weitere Stunde verstrich ereignislos, und er stellte das Radio an, rutschte in eine bequeme Position und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lauschte den Nachrichten über ein Europa, das seine Liebe für Grenzzäune wiederentdeckte, über Brüllaffen, die Politik machten, und Mutter Merkel, deren Thron zu wackeln begann, über Terroristen und Selbstmordattentäter, und mit jeder neuen Horrormeldung sanken seine Lider ein Stückchen tiefer.
Wie der Schatten eines riesigen Vogels erschien Lisbeth in der Auffahrt. Er brauchte einen Moment, um ihre Präsenz zu begreifen, dann fuhr er zusammen, als hätte man ihm einen Stromstoß versetzt. Sie öffnete einen Torflügel, bugsierte einen Pfosten davor und verschwand in der Garage.
»Wo will die Alte bloß hin?«, wandte er sich an Eva. Er stellte das Radio aus und langte nach dem Fernglas. Es war nach zehn, und der Himmel erstrahlte in einem kühlen, metallischen Blau. »Sonderangebote ramschen, was sonst.«
Lisbeth schob die Simson heraus, trat den Ständer runter und verschloss das Tor. Wie üblich war sie ganz in Schwarz gekleidet: Die Jeans und die Lederjacke, die plumpen Stiefel und der Motorradhelm, der am Lenker hing. Willy fühlte sich von der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Trauer seit jeher provoziert. Ihr Junge war weder verbrannt noch an seiner eigenen Kotze erstickt; Martin Berger hockte zwar in der Klapse, war dafür aber quicklebendig und bald auf freiem Fuß. Verdammtes Rechtssystem, dachte Willy und spürte das Stechen in seinem Bauch.
Lisbeth stülpte sich eine Mütze übers Kraushaar, danach den offenen Helm. Aus einer olivgrünen NVA-Tasche, die hinten am Gepäckträger festgeschnallt war, zog sie ein Paar Handschuhe; natürlich in schwarz. Sie trat mehrmals den Kickstarter durch, und sobald der Motor ansprang und den ersten Qualm hustete, kletterte sie auf den Sitz. Sie ließ die Maschine im Leerlauf rattern, beide Hände am Lenkrad, den Blick in Richtung Feld.
Zunächst wollte Willy seinen Augen nicht trauen und drehte fieberhaft an der Schärfe, doch täuschte er sich nicht. »Meine Fresse«, sagte er. »Die Alte grinst mich an.«
Mit flatternden Hosen fuhr Lisbeth den Falkenberger Weg entlang, bog anschließend auf die Dorfstraße, und erst als sie außer Sicht war, merkte Willy, dass er zu atmen vergessen hatte.
»Danny Schmidt«, wiederholte der Mann, der nun eine Reihe vor ihr saß. »Aus Lennarts Klasse.«
Sie hatte weder ein Bild des jungen Schmidt vor Augen noch von einem der anderen Mitschüler ihres Bruders. Größtenteils kannte sie Lennarts Klasse aus den Erzählungen, mit denen er sie oft zum Lachen, bisweilen auch zum Fürchten gebracht hatte. Sie erinnerte sich an einen Robert Beck, den er Robert Speck gerufen hatte, oder an einen Mirko Ruprecht, dem beim Wrestling die Hoden in die Bauchhöhle gerutscht waren. Fortan hatte Lennart ihn liebevoll Geierpelle genannt. Aber ein Danny Schmidt?
»Tut mir leid«, meinte sie schließlich. »Der Name sagt mir nichts.«
»No Problem.« Er winkte lässig ab. »Als ich dich das letzte Mal gesehn hab, warst du noch flach wie ’n Brett.«
»Mannomann, und trotzdem hast du mich erkannt.«
»Naja, deine Friese ist anders.« Er hatte den Rücken in Fahrtrichtung gedreht und sprach über die Lehne hinweg. »Und was treibt dich nach Gollwitz?«
»Ich will meine Familie besuchen.«
»Etwa den schönen David?«
»Die anderen natürlich auch.«
»Ich hab gehört, das Gutshaus ist gut besucht.«
»Da weißt du mehr als ich.«
»Seit dein Onkel ’nen Wintergarten hat, kann man direkt aufn See gucken. Die Lage ist einfach tipptopp.«
Beim ersten Hören klang Dannys Stimme nicht wie die des Anrufers, der gestern ihre Familie bedroht hatte. Aber was hieß das schon; in den billigsten Krimis wurde gezeigt, wie man seine Stimme verstellen kann. Sie entgegnete:
»Von einem Wintergarten weiß ich nichts.«
»Verfluchter Mist. Der stiehlt allen die Show.«
»Wer ist denn alle?«
»Na, alle im Dorf.«
»Du redest von der Konkurrenz?«
»Wer will denn Plötzen, wenn’s Hechte gibt?«
»Plötzen?« Sie grinste. »Die sind wohl nicht beliebt?«
»Zu viele Gräten«, sagte er todernst. »Zu viele Gräten.«
Unter Dannys Lippe spross ein winziger Bart in Form eines Dreiecks, und sobald er den Kopf abwärts bewegte, sträubten sich die Borsten gegen den Kragen seiner Daunenjacke. Sie fragte ihn, ob er selbst ein Zimmer vermiete oder überhaupt irgendwas in Sachen Tourismus mache.
»Ich biete Nachtwanderungen an.«
»Für Sternsucher?«
»Für jeden, der’s dunkel mag.«
»Braucht man dafür eine Lizenz oder so?«
Jetzt grinste Danny. »Eigentlich muss man bloß wissen, dass die Sterne oben sind und im Dunklen leuchten. Ansonsten sollte man sich in der Gegend auskennen.«
»Hört sich interessant an.«
»Willste ’ne Tour buchen? Ich mach dir ’n Sonderpreis.«
»Ich behalt’s aufm Schirm, okay?«
»Hier, guck mal.« Er hob einen Beutel mit zwei Ferngläsern von seinem Sitz. »Hab ich gebraucht bei Dunkers gekauft.«
»In Rathenow?«
»Klaro.«
In der Schule hatte sie ein Referat über den Aufstieg und Niedergang der Rathenower Optischen Werke halten müssen. Brillen, Ferngläser und Teleskope – dafür war die Stadt zu DDR-Zeiten bekannt gewesen. Von der Vorzeige-Industrie hatten sich lediglich zwei Familienbetriebe über die 90er retten können; zu spät war die Region zu einem der dunkelsten Orte Deutschlands ernannt worden. Auf Anna machte die Gegend allerdings kaum den Eindruck, als wären die Senioren fähig, die Entwicklung umzukehren. Oder die Danny Schmidts dieser Welt. Er rückte seine Basecap ein wenig nach rechts und sagte unüberhörbar:
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