Johanna Zorn - Sterben lernen - Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

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Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes: краткое содержание, описание и аннотация

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In seinen letzten, nach der Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen rückte der Theaterregisseur Christoph Schlingensief das persönliche Aufbegehren gegen den eigenen Tod in das Zentrum seines Schaffens. Die Publikation widmet sich dieser totalen künstlerischen Ich-Geste und stellt Schlingensiefs theatrale Selbstinszenierung dabei einerseits in den Horizont autobiographischer Selbstkonstruktion und beleuchtet andererseits die Relevanz der philosophischen Formel des Sterbenlernens für seine letzten Bühnenarbeiten.

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Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0048-9

Die vorliegende Publikation wurde im Jahr 2015 als Dissertation am Institut für - фото 1

Die vorliegende Publikation wurde im Jahr 2015 als Dissertation am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. Mein besonderer Dank gilt daher Prof. Dr. Christopher Balme, der mein Promotionsprojekt betreute und in wertvollen Gesprächen begleitete. Ebenso danke ich dem Promotionsprogramm ProArt, das mir einen regen und impulsreichen Austausch mit den beteiligten HochschullehrerInnen und DoktorandInnen ermöglichte.

Der Universität Bayern e.V. sowie der FAZIT-STIFTUNG danke ich für die Unterstützung meines Projekts durch Forschungsstipendien, Johannes Reichle für die großzügige Finanzierung der vorliegenden Publikation.

Mein herzlicher Dank gilt schließlich all jenen mir nahestehenden Personen, die den Prozess der Promotion über die Jahre hinweg begleiteten und die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit wesentlich mitgestalteten.

Einleitung

Der antike Dichter Homer gestaltete im zwölften Gesang der von Horkheimer und Adorno als „Grundtext der europäischen Zivilisation“1 bezeichneten Odyssee einen Zentraltopos über das ambivalente Verhältnis von Verführung und Widerstand aus, der mit der Thematik der Einübung in den Tod eng verbunden ist. Der betörende Gesang der Sirenen offenbare, so erzählt es Homer, seinen Adressaten eine Wahrheit, die kein Mensch zu ertragen im Stande sei. So muss derjenige, der der bloßen Verheißung, durch den bis dahin unerhörten Gesang eines Geheimnisses habhaft zu werden, nicht widerstehen kann, unweigerlich untergehen. Odysseus und seine Gefährten nun, die auf ihren Irrfahrten auch die Heimat der Sirenen passieren, entkommen der vokalen Verlockung der rätselvollen Mischwesen jedoch, ohne ihr recht eigentlich zu widerstehen. Während Odysseus die Besatzung des Schiffes, dem Rat der Seherin Kirke folgend, vorsorglich in den Zustand der Anästhesie versetzt, indem er die Ohren der Männer mit Wachs stopft und somit vor der Verführung schützt, wagt es der Held des Epos, sich dem verhängnisvollen Gesang im Modus des Als-ob zu stellen. Von seinen Männern an einen Pfahl festgebunden, hört er dem Gesang zwar zu, vermag es aber nicht, sich aus eigener Kraft von seinen Fesseln zu lösen, so sehr er es auch versucht.2

Diese beiden, von Homer reflektierten, unterschiedlichen Strategien des Entzugs basieren auf zwei verschiedenen Weisen, es mit der Verführung aufzunehmen. Die eine besteht in der Technik des psychophysiologischen Sich-Verschließens vor der Wahrheit: Indem Odysseus das Vordringen des erregenden Gesangs an die Ohren seiner Besatzung unterbindet, löscht er selbstredend nicht dessen Existenz aus, sondern verschließt lediglich das Wahrnehmungsorgan der Schiffsleute. Existentiell betrachtet, befindet sich die Besatzung nach wie vor im Bedrohungsgebiet der Sirenen. Lediglich phänomenal, durch die Versiegelung des Gehörsinns, wird sie von jeglicher äußeren Einwirkung abgeschirmt. Die den Männern von Odysseus aufgezwungene Haltung gegenüber der Verführung beruht auf der Entscheidung, sich dem Geheimnis des Gesangs von vornherein zu entziehen. Die Logik dieser Wahl besagt, wer sich auf sinnlicher Ebene nicht öffnet, kann der Verführung auch nicht erliegen.

Odysseus hingegen begegnet der möglichen stimmlichen Blendung durch die Sirenen in der Haltung eines Wissen-Wollenden und Erfahrungssuchenden. Der Held möchte die Verheißung, die ihm die Entdeckung eines ihn selbst vernichtenden Geheimnisses in Aussicht stellt, keinesfalls ignorieren, sondern, ganz im Gegenteil, er will zu diesem Arcanum vordringen. Allerdings ist Odysseus nicht dazu bereit, die Offenbarung mit seinem Tod zu bezahlen. Gemäß einer dem Mythos unauflösbar zugrunde liegenden Aporie ist das Eine (die sinnliche Erfahrung der Wahrheit) nicht ohne das Andere (den Tod) zu haben. Odysseus, der sich über diese Bedingung hinwegsetzen will, greift zu einem Trick, um eben doch das Eine ohne das Andere zu gewinnen. Indem er den mythisch verbürgten Pakt, der Wissen und Tod konditional und unzertrennlich miteinander verbindet, hintergeht, überschreitet er symbolisch das die Fabel präformierende (Natur-)Gesetz und setzt die Logik des Epos außer Kraft. Aufgrund seiner Hybris – seiner die Natur bezwingenden instrumentellen Vernunft – wurde der Überwinder Odysseus in der Lektüre des Epos durch Horkheimer und Adorno schließlich zum „Urbild […] des bürgerlichen Individuums“3, das sich durch List die Gesetze unterwirft.

Horkheimers und Adornos Rede vom falschen Spiel des bürgerlichen Individuums unterschlägt allerdings die existentielle Radikalität von Odysseus’ erprobtem Übertritt als einem von Naivität und Hochmut gleichermaßen gekennzeichneten Versuch, sich der Wahrheit des Todes auszusetzen, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Dabei fußt Odysseus’ Strategie bei genauerem Betrachten auf zwei kontradiktorischen Einstellungen. Einerseits leugnet der Held letztlich jene Macht, die größer und stärker ist als er selbst, andererseits trotzt er diesem selbstauferlegten Denkverbot und ist gewillt, hinter die Grenzen des rational Erfassbaren zu schauen. So zeigt sich im Kern der Sirenen-Episode eine Parabel über den Wunsch des Menschen, in einer Vorläufigkeit zur aletheia vorzudringen, um das Geheimnis des Lebens und des Todes momenthaft zu erblicken, die Sphäre des Unerfahrbaren allerdings sogleich wieder zu verlassen. Odysseus gelingt dieses Vordringen, das außerhalb des mythisch-fiktionalen Rahmens grundsätzlich versagt bleiben muss, da jede Rückkehr versperrt wäre, allerdings nur um den Preis seiner Amnesie, die seine Erinnerung an das Gehörte zu seinem eigenen Schutz im Nachhinein löscht. Die letzte Wahrheit bleibt das hapax legomenon schlechthin, das „nur einmal gehörte Wort“.

Trotz der physischen Unerfahrbarkeit des Todes richtet der Mensch freilich seit jeher seinen Blick in die Zukunft, setzt sich selbst dabei unweigerlich in ein Verhältnis zur eigenen Endlichkeit und füllt den unbeschreitbaren Raum des Jenseits im Denken prospektiv mit Vorstellungen aus. Aus der „ureigenste[n] Bildlosigkeit des Todes“4 evolvieren dabei je individuelle Metaphern, die eine symbolische Ordnung konstituieren. Sie halten der Unsagbar- und Darstellungslosigkeit des Todes als nackter Wahrheit, der man, mit Nietzsche, den Schleier nicht abziehen könne, sondern die man verhüllen müsse,5 ein imaginäres Konstrukt entgegen. Die Fülle an Versuchen, den Tod metaphorisch zu umspielen, die aus der abendländischen Kulturgeschichte eine Geschichte des prospektierten Todes gemacht hat, legt Zeugnis darüber ab, dass dessen „Unvorstellbarkeit […] keine Resignation, sondern vielmehr einen gewaltigen Sturm von Bildern und Visionen ausgelöst“6 hat. So begünstigte die rationale wie empirische Ratlosigkeit angesichts des Todesgedankens die Genese einer mannigfaltigen thanatologischen Metaphorik. Die spezifische Rhetorik, die das Phänomen des Todes in die Sphäre der Darstellbarkeit hebt, war und ist im Laufe der Geschichte einer erheblichen Dynamik unterworfen.

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