ELLA STAIN
Im Angesicht des Bösen
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Inhaltsverzeichnis
Titel ELLA STAIN Im Angesicht des Bösen Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Die Anschuldigungen zweier Mädchen
2. Die Hexenprozesse
3. Die Hütte im Wald
4. Rückkehr nach Salem
5. Dahlias sehnlichster Wunsch
6. Seelenopfer
7. Drei Schwestern
8. Auge um Auge
9. Ein Opfer für die Unsterblichkeit
Impressum neobooks
1. Die Anschuldigungen zweier Mädchen
Salem Village, September 1692
Leise und gemächlich hört Victor das Plätschern der aufschlagenden Wellen des Atlantiks, als er mit seinem hölzernen Fischerboot wieder zurück zu seiner Anlegestelle im kleinen Hafen Salems schippert. Es ist bereits dunkel. Eine feuchte, dichte Nebelschicht schiebt sich über die Oberfläche des Wassers hinweg in Richtung Küste und umfließt auch Victors Boot, sodass er das Flackern der Kerze vorne am Bug beinahe nicht mehr erkennen kann. Aber seit Jahren schon folgt Victor demselben Weg Tag für Tag, wenn er vom Meer zurück in den Hafen gleitet. Er braucht kein Tageslicht und auch keine gute Sicht, um zu wissen, wo er sich gerade befindet und wo er entlangfahren muss. Der aufkommende, kühle Wind lässt ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Es ist vollkommen still. Kein Mensch ist zu sehen, oder zu hören. Nur die bedrohliche Stille des Wassers und das Dunkel der Nacht umschlingen Victor und sein Boot. Behutsam taucht er sein Paddel immer wieder ins Wasser und steuert so seinen Kahn in die richtigen Bahnen. Nach wenigen Metern stößt er mit dem Bug gegen etwas im Nebel Verborgenes, das Boot dreht sich zur Seite und Victor greift mit seiner linken Hand nach den Holzlatten des Steges. Nur mit Mühe schafft er es, sich über die Kante seines Schiffchens zu hieven, um mit seinem Fuß Halt auf dem Steg zu erlangen. Von einer Seite zur anderen wankend zurrt Victor dann schließlich sein Boot fest.
Das Fischen, das Leben auf dem Wasser ist es, das ihm im Blut liegt. Er und alle Männer der vorangegangenen Generationen sind zur See gefahren, waren stundenlang alleine mit ihren Gedanken und den Fischen, die sie aus dem Meer gezogen haben. Ein scheinbar sorgenfreies Dasein. Das Leben an Land hingegen ist und war Victor schon immer fremd, hat ihm schon immer missfallen. Er ist ein missmutiger, wehmütiger Zeitgenosse, der mit der schlichten Anwesenheit seiner Mitmenschen alleine schon völlig überfordert ist. Der einzige Begleiter, der nie von seiner Seite weicht, ist seine Flasche Whiskey.
Keiner der anderen Fischer seines Dorfes ist mehr im Hafen. Sie haben schon vor Stunden ihr Tagwerk beendet, die gefangenen Fische an den ortsansässigen Händler verkauft, genehmigen sich in der Kneipe zur Belohnung noch ein paar Biere, oder verbringen die Abendstunden im Kreise ihrer Familien. Nicht so Victor.
Als seine Kameraden in aller Frühe mit ihren Booten durch die Massachusetts Bay hinaus auf den zu dieser Jahreszeit äußerst gefährlichen Atlantik fuhren, um die nötigen Fische zu fangen, damit sie ihre Familien mit dem Wenigen, das sie dafür erhalten würden, ernähren können, lag Victor in seinem schwankenden Kahn auf dem Rücken, schnarchte und schlief seinen Rausch aus, den er sich die ganze Nacht lang in der Dorfkneipe angetrunken hatte. Erst gegen Mittag, als die milden Sonnenstrahlen direkt auf seine bleichen Wangen fielen, wurde er schließlich wach, erhob sich zögerlich und machte sich an die Arbeit.
»Hey, Victor«, schreit ihm ein Mann vom Ende des Steges aus zu, als er sich gerade nach den Fischen bückt, die mit einer Schnur zu einem Bündel zusammengezurrt sind. »Soll ich dir vielleicht mit deinem Fang helfen?«
Victor kann den Mann im Dunkeln zwar nicht erkennen, weiß aber anhand seiner Stimme, dass es nur Gustav sein kann. Gustav, der Fischer mit dem größten Boot im Hafen und sogar zwei Angestellten, die Tag um Tag für ihn aufs Meer hinausfahren und dabei ihr Leben für ihn riskieren. Gustav, der währenddessen gemütlich in der warmen Hütte am Hafen sitzt und dann am Abend nur das Geld für den Fang vom Händler kassiert. Gustav, der sich schon seit Jahren lächerlich über Victor macht, wenn dessen Fang wieder einmal mickrig ausgefallen ist. Gustav. Der soll bloß bleiben, wo er ist!
Victor greift nicht nach den leblosen Fischen im Bauch seines Bootes, sondern nach der Whiskeyflasche, die daneben liegt. Ein kleiner Schluck ist noch übrig. Er schnappt sie sich und prostet damit dem Mann zu.
»Mach dir bloß keine Sorgen um mich, Gustav. Ich bin kräftig genug, um meinen Fang selbst zum Händler zu tragen. Mach dir nur keine Mühe. Erlisch deine Kerzen und schau zu, dass du nach Hause zu deiner Familie gehst!«
Er schüttet sich den letzten Rest des Whiskeys in seinen Rachen und wirft dann die leere Flasche in weitem Bogen ins Meer. Gelogen hat Victor nicht. Für seinen heutigen Fang kann er auf Gustavs Hilfe ruhig verzichten. Nur vier Fische hat Victor an diesem Tag gefangen, was auch nicht verwunderlich ist, da es schon weit nach Mittag war, als er endlich ein halbwegs akzeptables Fangrevier erreichte und sein Netz das erste Mal an diesem Tag auswarf. Vier Fische! Das reicht nicht, um seine Familie zu versorgen. Das reicht nicht einmal, um ein anständiges Essen am Abend für alle auf den Tisch zu stellen. Aber es reicht auf jeden Fall für zwei, drei Biere in der Kneipe. Und falls es doch mehr werden sollten, kann er den Rest der Zeche bestimmt an einem anderen Tag begleichen.
Victor prüft noch einmal das Tau seines Bootes. Immerhin ist dies seiner Überzeugung nach sein wertvollster Besitz. Dann greift er nach der noch vollen Flasche Whiskey, die in einer Seitentasche neben dem Fischernetz klemmt, nimmt die vier Fische an der Schnur und wankt über den Steg direkt auf das Flackern jener Kerze zu, die Tag und Nacht in einer gläsernen Laterne am Häuschen der Hafenverwaltung über der Eingangstür brennt.
Der Weg vom Hafen ins Dorf zum Händler, der ihm den heutigen Fang abkaufen soll, bringt Victor auch an seiner Hütte vorbei. Ein bescheidenes Holzhäuschen, aus zwei Räumen bestehend. Ein Raum mit einer Feuerstelle zum Kochen und Essen und ein anderer, der als Schlafraum für die ganze Familie dient.
Ein kleines Mädchen öffnet in dem Moment die Tür und geht hinaus auf die verwahrloste Veranda, um ein paar Scheiter Holz für das Feuer im Ofen zu holen. Stück um Stück stapelt sie es mit einer Hand auf ihren knochigen Unterarm. Wenn man ihre gebrechliche Erscheinung bedenkt, scheint es unvorstellbar, dass ihre Ärmchen es vermögen, diese Menge an Holz zu tragen. Als sie sich umdreht, erblickt sie ihren Vater auf dem Weg vor der Hütte. Sie grüßt ihn höflich, doch erhält keine Antwort.
»Vater, ich bin es, Dahlia. Kommst du nicht ins Haus?«, ruft sie der von der Nacht umhüllten Gestalt auf der anderen Seite des morschen Zauns zu.
Victor jedoch erwidert seiner Tochter erneut kein Wort, wendet stattdessen seinen Blick von ihr ab und folgt dem erdigen Weg mit gesenktem Kopf in Richtung Dorf.
Je weiter die Nacht voranschreitet, desto kühler wird es. Es ist erst September. Normalerweise sollte es zu dieser Jahreszeit noch etwas wärmer sein. Die Einwohner von Salem mussten in diesem Jahr schon viel erleiden und so scheint auf den feuchten, verregneten Sommer jetzt auch noch ein kalter Winter zu folgen. Viele Einwohner sind erkältet, liegen vom Fieber geplagt in ihren Betten. Die Medizin ist knapp. Aber auch wenn es mehr Vorrat davon gäbe, würden sich diese die verarmten Menschen in Salem nicht leisten können. Wenn der Winter tatsächlich so kalt wird, wie es jetzt den Anschein macht und sollte er darüber hinaus auch noch länger andauern als die Jahre zuvor, dann wird er vielen Einwohnern von Salem ihr Leben kosten. Das ist sicher. Auf so etwas sind sie nicht vorbereitet. Wie sollten sie auch? Jeder kämpft tagtäglich ums Überleben, versucht irgendwie Geld zu verdienen, um seine Liebsten mit dem Nötigsten versorgen zu können. Und im Winter wird das erfahrungsgemäß noch schwieriger als sonst…
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